„Der Ratgeber für Familien, Freunde und Partner von Menschen mit verminderter Geräuschtoleranz (Misophonie).“
Der Schlüssel zur Überwindung von Misophonie ist vor allem Information. Für Misophoniker ist es in der Regel eine starke Erleichterung, wenn sie erfahren, was Misophonie eigentlich ist, wie sie funktioniert, was sie verschlimmert und was man tun kann, damit sie besser wird. Der wichtigste Punkt dabei ist, seine Trigger nicht aushalten zu wollen und zu müssen, denn unter Anspannung getriggert zu werden, verschlimmert die Misophonie dauerhaft. Wenn das Umfeld darüber informiert ist, und bereit, z.B. dem Sohn, der Tochter oder dem Partner den Weg zu erleichtern, ist viel gewonnen. Zu wissen, dass die misophonischen Gefühlsausbrüche nicht persönlich gemeint sind und dass der Misophoniker sie nicht steuern kann, nimmt viel Druck aus dem Zusammenleben. Ich freue mich deshalb, dass Patrick Crauser hier ein Buch vorlegt, das sich direkt an die Angehörigen von Misophonikern wendet und ihnen wichtige Informationen zum Thema an die Hand gibt. Dies ist eine sehr gute Möglichkeit, Menschen, die direkt oder indirekt von Misophonie betroffen sind, zu unterstützen. Promoseite von Patrick Crauser.
Autor, Blogger und Misophoniker Patrick Crauser (Instagram: ➜ https://www.instagram.com/misophoniehilfe) spricht mit dem Misophonie-Experten Andreas Seebeck über Misophonie, Therapiemöglichkeiten und Tipps für den Alltag.
Inwieweit helfen Kopfhörer mit aktiver Umgebungsgeräuschunterdrückung wie der Bose QC20 bei Misophonie? Das Aushalten von Triggern verschlimmert die Misophonie dauerhaft, das ist mittlerweile bekannt. Aber was, wenn es gerade schwierig ist, sich an einen triggerfreien Ort, eine triggerfreie Oase zurückziehen kann? Dann können Ohrstöpsel und Kopfhörer helfen, um dem emotionalen und physiologischen Stress zu entkommen. Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung, wie die Bose QC20 oder QC25 können bei Misophonie recht nützlich sein. Ganz neu gibt es auch die kabellose Variante, die Bose QuietComfort® Earbuds. Jedoch benötigen Sie zusätzlich meist noch ein Rauschen, um Ihre Trigger wirklich ausreichend zu blockieren.
Ich benutze die QC20 jetzt seit 2015 und mag sie, weil
sie sehr bequem zu tragen sind
sie eine sehr lange Akkulaufzeit haben (über 6 Stunden)
sie Geräusche sehr effektiv wegfiltern
und nicht zuletzt, weil sie auch ohne weiteres Gerät einsetzbar sind
Allerdings gibt es auch einen Nachteil: Die Kabel stören oft und sind sehr auffällig. Die Dinger heimlich zu benutzen ist nicht möglich.
Wichtig: Die Unterdrückung von Umgebungsgeräuschen hängt stark davon ab, wie Ohrform und Ohrhörer zusammenpassen. Ich habe schon Klienten gehabt, die aufgrund ihrer Ohrform nicht den geringsten Unterdrückungseffekt wahrnehmen konnten. Deshalb ist es wichtig, dass man die Kopfhörer in der Praxis testen und gegebenenfalls wieder zurückgeben kann!
Der Autor beschreibt hier anschaulich am eigenen Beispiel, wie er die Informationen und Ratschläge aus Thomas Doziers Buch über Misophonie umgesetzt hat und sein Leben gestaltet, um mit Misophonie zu leben. Im Buch stecken viele Ansätze, um trotz Misophonie an Lebensfreude und Lebensqualität zu gewinnen. Zum Beispiel gibt es Vorschläge, wie man mit den Angehörigen über Misophonie sprechen kann, sowie eine Misophonie-Ampel, um einfach und unkompliziert seinen aktuellen Gemütszustand zu kommunizieren. Ich finde dieses Buch sehr hilfreich und besonders im Zweiergespann mit Doziers Buch sehr sinnvoll, weil hier konkret auf die Umsetzung im Alltag eingegangen wird.
Kompakt und leicht verständlich: Wie entsteht Misophonie und was kann man tun, um sie in den Griff zu bekommen? Das Buch „Misophonie – Lisas Wut und die Geräusche“ beschreibt anschaulich und mit vielen farbigen Illustrationen, wie sich Misophonie anfühlt und was Sie als Betroffener oder Angehöriger tun können, damit die Misophonie nicht immer schlimmer, sondern besser wird.
Lisa reagiert mit Wut und Ekel auf ganz normale, leise Geräusche. Sie weiß gar nicht, was mit ihr los ist und mit ihr leidet ihre ganze Familie. Dann stellt sich heraus, dass Lisa Misophonie hat und damit nicht alleine steht. Viele Menschen sind von Misophonie betroffen, doch meist dauert es lange, bis sie auch nur erfahren, dass es einen Namen für ihr Problem gibt. Ihr Sozialleben ist oft extrem beeinträchtigt, die Suche nach Hilfe schwierig, denn auch in der Therapeuten- und Ärzteschaft ist Misophonie noch weitgehend unbekannt. Da Misophonie in den meisten Fällen im Alter von 8 bis 12 Jahren beginnt, ist Lisa ein typisches Beispiel, in dem sich sicher viele Betroffene wiedererkennen werden.
Extreme Emotionen wie Wut, Ekel oder Verbitterung überwältigen den Misophoniker, evtl. fühlt er sich auch beleidigt und / oder angegriffen. Auch können Hilflosigkeit oder Trostlosigkeit ebenfalls zu diesen starken Gefühlen gehören.
Warum ist es nicht möglich, diese Emotionen zu unterbinden? Für die Misophonie sind nur die unbewussten Teile des Gehirns verantwortlich (das Reptiliengehirn [ auch Hirnstamm genannt] löst den emotionalen Reflex des limbischen Systems aus). Deshalb können Misophoniker ihre Reaktion auf den Trigger genauso wenig kontrollieren wie z.B. einen Schweißausbruch. Auch die äußeren Umstände sind unwichtig – der Triggerstimulus löst die Emotionen jedes Mal aus, wenn unser Reptiliengehirn ihn wahrnimmt.
Was geschieht wenn Sie einem Trigger ausgesetzt sind? Es ist nicht so einfach wie es scheint, denn Misophonie ist ein zweiteiliger Prozess.
Sie sehen oder hören einen Trigger, dieser löst einen körperlichen Reflex in Ihnen aus. Dieser Reflex ist aversiv, unangenehm und ungewollt.
Der körperliche Reflex löst Ihre extremen Emotionen aus, so wie allgemeine physiologische Reaktionen, die von Ihrer emotionalen Erregung stammen. Diese Reaktionen schließen Druck im Brustkorb, Kopf oder gar im ganzen Körper ein, sowie Muskelanspannung, feuchte Hände, Atemnot, hohen Blutdruck und schnellen Puls. Wegen dieser starken Reaktionen wird der Reflex selbst normalerweise nicht wahrgenommen.
Wie die körperlichen Reflexe auf Behandlungen und unterschiedliche Triggerstärken ansprechen, deckt sich mit Forschungsergebnissen zu Reflexen im allgemeinen. Der misophonische Reflex ist also ein angeeigneter, aversiver, körperlicher Reflex, bzw. ein konditionierter oder Pavlov’scher Reflex. Der Begriff „Bewältigungsstrategie“ beschreibt, was Sie tun sollten, wenn Sie einen Trigger wahrnehmen.
Beispiele zur Bewältigung: – sich die Ohren zuhalten – das Geräusch nach-äffen – ihre Triggerperson auffordern, mit dem Geräusch aufzuhören – sich zurückziehen
Der körperliche Reflex
Es scheint so, als ob die extremen Emotionen eine direkte Reaktion auf einen Trigger sind. Die folgende Abbildung illustriert diese Auffassung von Misophonie:
Diese Zeichnung ist aber unvollständig, es fehlt ein entscheidender Zwischenschritt! Der Trigger löst nicht die Emotionen aus, sondern einen körperlichen Reflex. Erst dieser Reflex ruft dann die extremen Emotionen hervor.
Die tatsächliche Ereigniskette sieht also so aus:
Diesen unfreiwilligen Muskelreflex bestätigen über 95%meiner Patienten. Ein Geräusch löst eine bestimmte körperliche Reaktion aus.
Beispielsweise die Muskelanspannung: – des Nackens – der Schultern, – des Brustkorbs – der Arme – des Gesichts – der offenen oder geballten Hand – der Füße – Beine – Zehen oder des Pos.
Manchmal sind die Reflexe auch intern, so wie in der Speiseröhre oder im Magen. Der Misophoniker spürt eventuell Übelkeit, sexuelle Erregung oder Harndrang.
Es gibt eine Vielzahl von Reflexen, und bei einigen sind sogar mehrere Muskeln beteiligt. Ein Patient beschrieb, dass er sich jedes Mal so fühle, als ob er einen Ball fangen würde, der gegen seinen Brustkorb prallt – beide Hände schossen nach oben, seine Ellbogen pressten sich an den Körper. Folgendes Video zeigt eine solche Reaktion. TRIGGERWARNUNG: Im Video ist ein Schniefen zu hören.
Die Individualität der körperlichen Reflexe bestätigt, dass Misophonie keine plötzlich auftauchende genetische Störung ist, sondern dass sie sich aus der Neurologie und den Erfahrungen der jeweiligen Person heraus entwickelt. Einige körperliche Reflexe sind fast nicht wahrnehmbar, z.B. eine ruckartige Bewegung des Kopfes oder ein Augenzucken. Andere hingegen sind sehr stark.
Eine Person sagte, ihr Reflex fühle sich an, als ob sie jemand mit einem Spaten quer durch die Brust aufspieße, eine andere sagte, es sei ein Gefühl als ob jemand ihr eine Nervenfaser aus der Wirbelsäule zöge.
Obwohl es bei 30 – 40 Millionen Misophonikern natürlich Gemeinsamkeiten gibt, findet man wahrscheinlich keine zwei genau übereinstimmenden Beschreibungen.
Der körperliche Reflex ist immer da, wird wegen der extrem starken Emotionen aber normalerweise nicht wahrgenommen, weil diese sozusagen über allen anderen Empfindungen liegen.
Bei einer meiner Patientinnen konnten ihre Mutter und ich ein Achselzucken sehen, während sie selbst nichts davon spürte.
Bei einem anderen Patienten war es ein Zucken im Bein, bei wieder einem anderen ein Stirnrunzeln. Auch sie spürten ihren Reflex erst nach langem Suchen.
Es ist wie ein Doppelschlag beim Boxen: erst der kaum spürbare körperliche Reflex und sofort danach die überwältigenden Emotionen, oder die Flucht-oder-Kampf-Reaktion. Die körperliche Reaktion ist viel schwächer als die emotionale und deshalb sehr schwer wahrzunehmen.
Wenn Sie ihren körperlichen Reflex genau bestimmen wollen, brauchen sie dazu einen schwachen Trigger – kurz und leise, also eine halbe Sekunde oder weniger, und fast unhörbar, am besten als Aufnahme. Der Trigger soll so leise sein, dass er zwar den Reflex, aber keine negative misophonische Reaktion auslöst. So können Sie bewusst Ihren Reflex wahrnehmen. Zum Aufnehmen und Abspielen können Sie z.B. meine kostenlose „Misophonia Reflex Finder App“ verwenden, mit ihr lassen sich auch Dauer und Lautstärke genau einstellen.
Die Identifizierung des Triggermuskels kann ein wichtiger Schritt sein zu einer dauerhaften Auflösung der misophonischen Reaktion.
Reflexe
Unser Hirnstamm (ach Reptiliengehirn genannt) kontrolliert unsere Reflexe. Wenn es einen Stimulus wahrnimmt, löst es eine sofortige physiologische Reaktion aus. Der Stimulus kann intern sein: ein erhöhter Kohlendioxidspiegel im Blut veranlasst uns, schneller zu atmen. Der Stimulus kann auch extern sein: wir schrecken aufgrund eines lauten Geräusches zusammen.
Sie können Ihre Reflexe nicht kontrollieren. So bestimmen Sie beispielsweise nicht, ob Sie schwitzen wollen oder nicht. Wenn Sie hellem Licht ausgesetzt sind, ziehen sich Ihre Pupillen ganz automatisch zusammen. Ihr Verdauungssystem, Ihr Herzschlag und Ihr Schreckreflex werden ebenfalls ohne Ihre bewusste Entscheidung vom Reptiliengehirn kontrolliert.
Einige Ihrer Reflexe sind angeboren, während andere im Laufe des Lebens entstehen. Diese Entwicklung heißt klassische oder Pavlov’sche Konditionierung und beginnt sofort nach Ihrer Geburt. 1901 führte Pavlov eine Studie mit Hunden durch, um deren Verdauung und Speichelfluss zu erforschen. Eines der Experimente diente dazu, die produzierte Speichelmenge der Hunde abhängig von der jeweiligen Fleischmenge, die sie fraßen, zu messen. Dabei entdeckte er, dass die Hunde schon Speichel produzierten, bevor sie das Fleisch fraßen. Das brachte ihn auf die Idee, herauszufinden, ob er den Speichelfluss der Hunde auch mit einem Glöckchen auslösen könne.
Bevor er den Hunden das Fleisch gab, das ihren Speichelfluss auslöste, klingelte er mit dem Glöckchen. Er wiederholte den Ablauf: Klingeln-Fleischgabe-Speichelfluss, Klingeln-Fleischgabe-Speichelfluss. Dann ließ er das Fleisch weg und die Hunde produzierten dennoch Speichel. Das Gehirn hatte das Klingeln mit dem Speichelfluss verbunden, denn es wusste, dass das Fleisch folgen würde. Nachdem sich der Ablauf mehrmals wiederholt hatte, lernte das Reptiliengehirn, dass der Ton signalisierte, dass Speichel benötigt wurde. So verknüpfte das Reptiliengehirn den Stimulus (das Klingeln) mit der Reaktion (Speichelproduktion). Über Jahre hinweg glaubten Forscher, dass sich der Reflex entwickelt habe, weil das Klingeln mit der Fleischgabe verbunden werde, aber neueste Studien zeigen, dass es wie beschrieben mit dem Speichelfluss gekoppelt ist.
Wichtig zum Verständnis der Misophonie ist, dass wir den konditionierten Reflex als eine Verbindung zwischen dem Stimulus und der körperlichen Reaktion betrachten. Als ich damit begann, Misophonie und die Entwicklung des misophonischen Reflexes zu untersuchen, stellte ich fest, dass es keinen unkonditionierten Stimulus gibt (so wie Fleisch, das das Speicheln der Hunde auslöst). Es gibt jedoch eine Verknüpfung des Triggerstimulus mit dem ersten misophonischen körperlichen Reflex, und dieser ist dem Betroffenen normalerweise völlig unbewusst.
Ein konditionierter Reflex entwickelt sich, wenn zwischen den beiden Stimuli nicht mehr als zwei Sekunden, am besten nur eine halbe, liegen. Wenn ich z.B. mit einer kleinen Glocke als Stimulus klingele und Sie eine halbe Sekunde danach in die Seite stupse (2. Stimulus), und diesen Vorgang einige Male wiederhole, würden Sie schließlich dem Klingeln zusammenschrecken, auch wenn ich Sie nicht stupse. Konditionierte Reflexe verlieren sich wieder, wenn die Reaktion nicht mehr provoziert oder erzwungen wird. Bei den Pawlov´schen Hunden verliert sich der Reflex (das Speicheln nach dem Klingeln), wenn über einen längeren Zeitraum kein Fleisch nachgeliefert wird.
Bei Misophonie hören die Reflexe jedoch nicht auf. Offensichtlich verstärkt sich der misophonisch-konditionierte Reflex, wenn ein Trigger wahrgenommen wird. Wenn Sie einen Trigger hören (z.B. Kaugeräusche) wird der Reflex ausgelöst. Danach erfolgt der emotionale Schub, durch den sich die Muskelanspannung noch weiter erhöht. Ihr Reptiliengehirn verbindet jetzt das Geräusch mit einer starken Muskelanspannung und glaubt, beim nächsten Trigger den Muskel noch stärker anspannen zu müssen. Dieser starke emotionale Schub nach dem Trigger scheint dafür verantwortlich zu sein, dass der Reflex sich bei jedem Trigger verfestigt, anstatt nachzulassen.
Misophonie und schmerzinduzierte Aggression
Es wird Ihnen leichter fallen, Ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, wenn Sie Misophonie als einen körperlichen Reflex betrachten. Bislang wurde Ihnen gesagt, Sie sollten sich einfach beruhigen, und ihre Mitmenschen waren vielleicht sogar der Meinung, dass Sie sich alles nur einbilden. Sicherlich waren Sie unglaublich wütend auf ihre Triggerpersonen, obwohl das eigentlich wider Ihre Natur ist. Möglicherweise wollten Sie sie sogar verletzen oder sagten und taten Dinge, die Sie hinterher bereuten. Aber Misophoniker haben keine Wahl. Ohne Behandlung empfinden sie den Reflex als einen Angriff. Das bilden Sie sich nicht einfach ein – sie werden tatsächlich von Ihrem Reptiliengehirn angegriffen. Es nimmt das Geräusch wahr, sendet einen elektrischen Impuls, und dieser löst eine unkontrollierbare Wut aus.
Eine an Mäusen in elektrisch geladenen Käfigen durchgeführte Studie verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem elektrischen Impuls und der misophonischen Wut, welche diese Angriffslust provoziert. (Ich möchte anmerken, dass ich diese Studie nicht durchgeführt habe und Tierversuche nicht befürworte.) Mäuse, die einen elektrischen Schlag abbekamen, griffen die nächstbeste Maus an, obwohl diese ihnen nichts getan hatte. Wir nennen das schmerzinduzierte Aggression. Das Gleiche geschieht bei Misophonikern – der elektrische Impuls löst ihre aggressiven Emotionen aus. Diese sind so extrem, dass sie den eigentlichen Impuls gar nicht bemerken, doch er existiert und er ist es, der ihre misophonischen Gefühle auslöst.
Erfahrungsberichte zum Muskelreflex
Carla’s Geschichte
Wenn die 10-jährige Carla ihren primären Trigger – die Kaugeräusche ihres Bruders – hörte, wurde sie sofort wütend, konnte aber keine körperliche Reaktion wahrnehmen. Carla und ihr Bruder stritten sich oft am Esstisch und ihre Mutter berichtete, dass Carla dann mit ausgestreckten Armen aufstand (ihre Arm- und Beinmuskeln waren also angespannt) und von ihrem Bruder verlangte, dass er sie nicht so anstarren solle. In dieser Situation hörte sie ihren Bruder schmatzen. In der Klinik löste eine leise Aufnahme ihres Triggers ein sichtbares Zucken in ihren Armen und Schultern aus. Sie spürte zwar die Muskelanspannung, aber keine oder nur sehr geringe Anflüge von Wut und Ekel. Anscheinend löste der Trigger die gleiche Muskelanspannung aus wie das Streiten mit ihrem Bruder. Dies belegt die Hypothese, dass sich Misophonie als ein Pavlov’scher konditionierter Reflex entwickelt, und dass die erste Reaktion auf einen Triggerstimulus ein körperlicher Reflex ist.
Connor’s Geschichte
Als Connor, 24, seine Behandlung begann, waren Kauen, Niesen, Atmen durch den Mund und Schmatzen seine starken Audio-Trigger. Es gab auch einen visuellen Trigger, wenn nämlich jemand seine Brille anfasste. Seine Misophonie hatte sich zwei Jahren zuvor während seines Einsatzes als Marinesoldat in Afghanistan entwickelt. Nach seiner Heimkehr wurde bei ihm außerdem eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. In Afghanistan war es Teil seines Alltags, mit seinem Team auf Patrouille zu gehen, und nach der Rückkehr zur Basis auf engstem Raum mit den anderen zu essen.
Tests ergaben, dass er seine Faust ballte und seinen Kopf nach rechts drehte, egal von wo das Triggergeräusch kam. Sein Reflex ähnelte einer Reaktion auf eine Gefahr, die sich von rechts nähert. Die misophonischen Trigger lösten jedoch keine PTBS-Reaktionen aus.
Bill’s Geschichte
Bill war als 30-jähriger bei guter Gesundheit und hatte sein Leben lang keine psychischen Probleme. Bis Spottdrosseln ihr Nest vor seinem Schlafzimmerfenster bauten. Das Zwitschern der Vögel bei Tag und Nacht raubte ihm den Schlaf und er entwickelte eine misophonische Reaktion auf die fünf verschiedenen Rufe der Spottdrossel. Inzwischen sind als neue Trigger andere Vogelrufe hinzugekommen, wobei seine Reaktion auf diese weniger stark ist. Wenn Bill seinen Trigger hört, bekommt er eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen und seine Kopfhaut fängt an zu kribbeln.
Paul’s Geschichte
Paul ist ein völlig gesunder Berufstätiger mittleren Alters. Er nahm eine neue Arbeit an, bei der er oft Anrufe von Menschen entgegennehmen musste, die seine Hilfe brauchten. Er entwickelte schließlich eine Muskelanspannung in der Brust, wenn er den Standardklingelton seines Handys hörte. Es ist anzunehmen, dass die Muskelanspannung die physische Reaktion auf seine Emotionen war, die vom Stress durch die ständigen Anrufe ausgelöst wurden. Er änderte seinen Klingelton, doch nach einiger Zeit spürte er auch bei dem neuen Ton die gleiche Muskelanspannung in der Brust. Er änderte den Klingelton mehrere Male, doch das half nicht.
Schließlich schaltete er sein Handy auf Vibration, aber es dauerte nicht lange, bis er auch darauf reagierte. Als sogar das Klingeln eines Telefons im Fernsehen als Auslöser wirkte, wurde ihm klar, dass das Klingelgeräusch sein Trigger war.
Paul erklärte: “Ich höre das Klingeln, meine Brustmuskeln zucken, und es gefällt mir nicht!“ Ihm missfiel zwar sein körperlicher Reflex, aber er spürte keine der Emotionen, die normalerweise mit den problematischen Anrufen einhergingen. Er beeinträchtigte keineswegs seine Arbeitsleistung, war aber ein aversiver Reflex auf ein übliches Geräusch. Jeglicher aversive Muskelanspannungsreflex auf einen Auslöser kann als misophonischer Reflex bezeichnet werden.
Jeder Misophoniker hat seine persönlichen Trigger, die eine zentrale Rolle in seinem Leben spielen. Ein Trigger ist etwas, was er hört oder sieht, beispielsweise wenn jemand kaut, beim Reden leicht mit den Lippen schmatzt, oder pfeift. Geräusche wie diese reizen einen Misophoniker, und die anfängliche Irritation verwandelt sich schnell in extreme Wut, Hass oder Ekel. Diese Reaktionen sind unfreiwillig und es ist dem Misophoniker nicht möglich, Ruhe zu bewahren. Die sofortige negative Reaktion auf einen Trigger ist das Kennzeichen der Misophonie. Zu diesen Emotionen kommen physiologische Reaktionen hinzu: Muskelanspannung, beschleunigter Herzschlag, Schwitzen oder extreme Stressgefühle. Selbst wenn der Trigger aufhört, bleibt der emotionale Aufruhr, und oft spielt sich das Triggergeräusch auch noch danach wiederholt im Kopf ab. Während ein Trigger den Misophoniker in einem einzigen Augenblick von 0 auf 100 bringen kann, dauert es unter Umständen Stunden, bis er sich wieder beruhigt.
Die Auswirkungen von Misophonie reichen von „fast nicht bemerkbar“ bis zu „extrem einschränkend“. Ich habe einmal einen Mann kennengelernt, der nur einen einzigen Trigger hatte, nämlich das Klimpern des Löffels beim Umrühren von Eistee. Er kann dieses Geräusch nicht verkraften, aber da niemand in seiner Familie Eistee trinkt, hört er den Trigger fast nie, und daher wirkt sich seine Misophonie auch kaum auf sein Leben aus. Eine junge Frau, die ich kenne, hat ebenfalls nur einen Trigger, doch dieser ruiniert ihr Leben. Ihr Trigger: das Geräusch von zwei oder mehreren Frauen, die sich unterhalten. Da sie eine fast ausschließlich weibliche Fachrichtung studiert, ist sie dauernd ihrem Trigger ausgesetzt – ihr Studium ist die Hölle.
Die Entstehung von Misophonie-Triggern
Misophonie-Trigger entstehen meist in ganz normalen Alltagssituationen im familiären Umfeld. In einer Umfrage aus dem Jahr 2013 sagten zwei Drittel der befragten Misophoniker, dass Kau- oder Essgeräusche ihre schlimmsten Trigger seien. 10% nannten Atemgeräusche als ihren Haupttrigger. Bei den übrigen 25% sind es die unterschiedlichsten Auslöser, wie z. B. Bassgeräusche durch die Wand, ein bellender Hund, Husten, das Klicken eines Kugelschreibers, Pfeifen, das Reden der Eltern, das Zischen in Wörtern wie „Ross“ oder „Chips“ und Tastaturgeräusche. Diese Liste ist keineswegs vollständig, denn jegliche sich wiederholenden Geräusche oder visuellen Eindrücke, und in seltenen Fällen sogar etwas, was man fühlt, riecht oder spürt, können zu Triggern werden. Ob ein Geräusch zum Trigger wird, liegt nicht an dem Geräusch an sich, sondern an den Umständen unter denen es wahrgenommen wird. Zu Anfang wirkt nur ein einziges Geräusch, das vielleicht sogar nur von einer einzigen Person stammt, als Trigger. Nach und nach weitet er sich auf ähnliche Laute, andere Umgebungen, schließlich alle Personen, die das bestimmte Geräusch machen und visuelle Eindrücke, die der Misophoniker mit dem Geräusch verbindet, aus. Misophonie kann auch mit einem visuellen Trigger beginnen, was aber eher selten vorkommt. Gewöhnlich beginnt alles mit einem Triggergeräusch, nach und nach können dann auch visuelle Eindrücke, die mit dem Trigger zusammenhängen, misophonische Reaktionen auslösen. Wenn beispielsweise Kaugeräusche Trigger sind, dann kann schon die Beobachtung triggern, wenn jemand Essen zum Mund führt oder nach den Kartoffelchips greift. Visuelle Eindrücke, die eng mit einem Trigger verbunden sind, können auch allein (also ohne das dazugehörende Geräusch) eine misophonische Reaktion auslösen. Nehmen wir einen Misophoniker, dessen Trigger schmatzendes Kaugummikauen ist. Wenn er Kieferbewegungen sieht, verknüpft er dieses Bild unbewusst mit Kauen, was er wiederum mit Kaugummikauen verbindet, und schon wird die Kieferbewegung zu einem visuellen Trigger.
Welche Geräusche werden zu Triggern?
Es gibt eine große Bandbreite von Triggern. Obwohl Kau- und Atemgeräusche besonders häufig vorkommen, kann auch jedes andere sich wiederholende Geräusch zum Trigger werden. Niemand hat sämtliche Trigger. Jeder Misophoniker hat seine eigene Kombination. Der erste Trigger eines Misophonikers stammt immer von einer ganz bestimmten Person oder aus einem bestimmten Bereich seines Lebens. Es können Vogelgezwitscher, Grillenzirpen, klopfende Rohre, bestimmte Worte, die Geräusche von technischen Geräten u.ä. sein. Häufig sind es Essgeräusche, z.B. wenn jemand Popcorn isst oder (sehr häufig) das Platzen von Kaugummiblasen. Für manche Misophoniker ist ein Geräusch nur dann ein Trigger, wenn eine bestimmte Person sie macht. Einer meiner Patienten war ein 15-jähriger Junge, der misophonische Reaktionen hatte, wenn seine Mutter etwas Knuspriges aß. Ich stellte ihn mit dem Gesicht zur Wand und steckte mir Kartoffelchips in den Mund. Keine Reaktion. Seine Mutter tat das Gleiche und er reagierte sofort mit: „Igitt! Das ist es!“ Dahingegen gibt es andere, die immer auf dieselbe Art von Geräusch reagieren, egal von wem es stammt. Ich hatte eine Frau in Behandlung, deren Trigger ihr Ehemann war, wenn er „äh“ sagte. Dieser einsilbige Laut löste in niemandem sonst eine Reaktion aus, und es störte sie auch nicht, wenn andere ihn machten. Es war ihr ganz persönlicher Trigger. Eine andere Frau konnte es nicht aushalten, wenn ihr Mann knuspriges Brot aß. Für einige Kinder ist die Stimme eines Elternteils ihr Trigger, aber nicht Stimmen im Allgemeinen. Ich kenne einen Mann in den 40ern, vor dessen Fenster Vögel ihr Nest bauten. Es handelte sich um Spottdrosseln, die 24 Stunden am Tag zwitschern, und das taten sie nun direkt vor seinem Schlafzimmerfenster. Dieser Vogelgesang entwickelte sich zu seinem Trigger. Die meisten Misophoniker haben Trigger, die von Menschen erzeugt werden. Einige reagieren aber auch auf Geräusche von Dingen, wie z.B. klopfende Rohre, tickende Uhren, Haartrockner, elektrische Rasierapparate. Trigger basieren auf den eigenen, einzigartigen Erfahrung mit Geräuschen. Der Grund für die vielen übereinstimmenden („typischen“) Trigger ist, dass wir viele Erfahrungen und Aktivitäten gemeinsam haben. Wir essen oft gemeinsam mit anderen Menschen, hören andere atmen, und wenn wir mit einem Allergiker zusammen wohnen, gehören die mit einer gereizten Nasenschleimhaut verbundenen Geräusche zum Alltag. Diese Erfahrungen führen zu häufig vorkommenden Triggern, schließen aber nicht die Entwicklung seltenerer individueller Trigger aus.
Die Ausbreitung von Misophonie-Triggern
Stellen Sie sich vor, Ihr Trigger wären Kaugeräusche. Nun sitzen Sie also am Esstisch, hören jemanden kauen und bemerken gleichzeitig das Kratzen der Gabeln auf den Tellern. Dieses Kratzen kann Ihr nächster Trigger werden. Oder Sie reagieren zunächst nur auf das Kauen, hören aber gleichzeitig, wie jemand schnieft. Nun lösen plötzlich beide Geräusche eine misophonische Reaktion bei Ihnen aus. Ein anderes Szenario wäre, dass nur das Kaugeräusch einer bestimmten Person Ihr Trigger ist, doch dann bemerken Sie die Essgeräusche der anderen Personen am Tisch. Sie könnten zunächst auf alle Geräusche dieser Personen reagieren, und schließlich von jeder beliebigen kauenden Person getriggert werden. Wenn ein Geräusch gleichzeitig mit Ihrem Triggergeräusch auftritt, oder auch nur in dem Moment, in dem Sie noch durch Ihren Trigger verärgert sind, kann dieses neutrale Geräusch zu einem neuen Trigger werden. Das Gleiche trifft auf visuelle Trigger zu. Obwohl Misophonie meist mit einem akustischen Auslöser beginnt, kann ein sich wiederholender visueller Eindruck, der gleichzeitig mit dem akustischen Trigger auftaucht, schnell zu einem visuellen Auslöser werden. Wenn Sie zum Beispiel auf das Geräusch einer platzenden Kaugummiblase reagieren, sehen Sie gleichzeitig die Kaubewegungen Ihrer Triggerperson. Diese Bewegung wird Ihr neuer unabhängiger Trigger. Selbst wenn Sie aufgrund von Ohrstöpseln gar nichts hören oder durch ein Fenster jemanden beim Kaugummikauen nur sehen, aber nicht hören können, kann die Kieferbewegung bereits eine Reaktion in Ihnen triggern.
Übliche misophonische Trigger
Geräusche / Audio-Trigger:
Essgeräusche: Kauen, Zähneknirschen, schmatzen, Schlucken, mit vollen Mund reden
Geräusche, die am Esstisch gemacht werden: das Kratzen der Gabel auf dem Teller oder an den Zähnen, das Klimpern eines Löffels gegen einen Schüsselrand, Klirren von Gläsern
Trinkgeräusche: Schlürfen, nach einem Schluck „ah“ sagen, Schlucken, nach einem Schluck durchatmen
andere Mundgeräusche: an den Zähnen saugen, Küssen, Zahnseide benutzen, Zähne putzen
verwandte Geräusche: eine Kartoffelchipstüte aufmachen, eine Plastikflasche quetschen, eine Tasse absetzen Atemgeräusche: Schniefen, Schnauben, durch die Nase atmen, regelmäßiges Atmen, Schnarchen, pfeifender Atmen,
Gähnen, Husten, Räuspern, Schluckauf
Verbale Trigger: Konsonanten (besonders S und P), Vokale (weniger üblich), das „Plopp“-Geräusch mit den Lippen, heisere oder raue Stimmen, Flüstern, bestimmte Worte, Unterhaltungen, Fernseher durch die Wand hören, Singen, Summen, Pfeifen, Murmeln, das Wort „eh“
übliche Geräusche rund ums Haus: Bass durch die Wände, Zuwerfen von Türen, das Brummgeräusch des Kühlschranks, Haartrockner, elektrischer Rasierer, Nagelklipsen, Scharren von Füßen, Flip-Flops, schwere Fußtritte, Laufen auf oberem Stockwerk, Gelenkknacken, Kratzen, das Ticken einer Uhr, das Klopfen von Rohren, weinendes Baby, Toilettenspülung
übliche Geräusche am Arbeitsplatz, bzw. in der Schule: Tippen, Mausklicken, Umblättern, mit einem Bleistift auf Papier schreiben, Kopierer, das Klicken eines Kugelschreibers, das Klopfen eines Stiftes oder Fingers auf dem Tisch
andere Geräusche: landwirtschaftliche Geräte, Pumpen, Rasenmäher, aufprallende Bälle, Piepton beim Einlegen des Rückwärtsgangs, Verkehrsgeräusche, Piepton beim Autoschließen, das Zuschlagen einer Autotür
Tiergeräusche: Fellpflege bei Hund oder Katze, Hundegebell, Krähen eines Hahnes, Vogelgezwitscher, Grillengezirpe, Frösche, Kratzen, Gewinsel
Visuelle Trigger
Kieferbewegung (Kauen), das Gesicht berühren, auf einem Smartphone scrollen, mit dem Finger zeigen, mit dem Fuß wippen, mit einer Haarsträhne spielen, Essen zum Mund führen, mit den Fingern klopfen, Zwinkern
Geruchstrigger
bestimmte Gerüche (selten)
Taktile Trigger
eine Tastatur anfassen, bestimmte Textilien (selten)
Weitere Trigger
Vibrationen von Bass, das Stoßen gegen Schreibtisch oder Stuhl, schwere Schritte
Books of Blood, Spielfilm / Horror, erscheint am 07. Oktober 2020
In dieser Hulu-Produktion spielt Britt Robertson die überempfindliche, an Misophonie leidende Jenna. Wegen des Misophonie-Elements lohnt es sich allerdings nicht, sich diesen Horror-Steifen aus der Feder von Clive Barker anzusehen. Sie wird nicht wirklich gut dargestellt, eher so, dass Jenna die Essgeräusche ihrer Eltern überlaut und als unangenehm empfindet. Vom Element der Wut ist nichts zu sehen.
Criminal Minds, Season 13 / Folge 21 „Das Brummen von Taos“
Quiet Please – Englische Dokumentation zum Thema Misophonie
Das Projekt von Jeffrey S. Gould wurde durch Fundraising finanziert. Hier die offizielle Website: www.quietpleasefilm.com. Den Film kann man z.B. bei Vimeo leihen (€ 4,09) oder kaufen (€ 8,20): https://vimeo.com/ondemand/quietplease. Deutsche Untertitel gibt es seit Mitte April auch, vielen Dank dafür an Angelica Gladsone!
Radio
Andreas Seebeck beim SWR2
Journalistin Karen Schuller hat mich für einen Beitrag im Südwestrundfunk interviewt. Auch zu Wort kommen andere Betroffene sowie Heilpraktiker Detlef Pleiß aus Stuttgart.
Mal ein vorbildlicher 4-minütiger Beitrag ohne Triggergeräusche mit einigen Lösungsstrategien inkl. Informationen über eine effektive verhaltenstherapeutische Maßnahme. Die im Beitrag angesprochenen Tests habe ich bereits hier: Der Misophonie-Selbstbewertungsfragebogen, Die Amsterdam Misophonieskala (A-MISO-S), Die Misophonie Aktivierungsskala, Schnelltest. Mehr zur „Konfrontation unter Entspannung“: Die Neural-Repatterning-Technique (NRT). Einziger Kritikpunkt meinerseits: Die erwähnte Ausuferung in Gewalttaten kommt zwar vor, ist aber extrem selten und für Misophonie absolut untypisch.
Interview mit Thomas Dozier im österreichischen Rundfunk
Ein Team um den Neurologen Sukhbinder Kumar von der Newcastle University hat eine Studie zum Thema Misophonie veröffentlicht, in der Gehirnscans von Misophonikern und Nicht-Misophonikern verglichen wurden, die während des Abspielens von Triggergeräuschen entstanden. Des Ergebnis der Studie ist, dass Misophoniker durch das Triggern Stress empfinden. Na ja, das haben wir schon vorher gewusst, oder? Immerhin, viele Portale berichten über das Phänomen Misophonie, und jede Öffentlichkeitsarbeit macht die Sache bekannter. Hier einige der Berichte, die wegen der triggernden Bilder allerdings mit Vorsicht zu genießen sind. Empfehlenswert ist m. M. nur der Artikel des Ärzteblattes, der auch die Links zur Originalveröffentlichung enthält (letzter Link):
Die Beschreibungen, wie sich Misophonie ‚von innen‘ anfühlt, sind so authentisch geschrieben, dass viel Recherchearbeit zu erkennen ist. Auch andere psychische Störungen werden wunderbar erlebbar. Die Story ist vielschichtig und wird auf mehreren Zeit- und Sichtebenen flüssig erzählt, die Spannung bricht nie ab. Der eigenwillige Satz ist zwar ungewöhnlich, tut dem Lesespaß aber keinen Abbruch.
“Du bist so eine schöne Frau – würdest du bitte keine unschönen Geräusche machen”
In dem Roman „Lyssa: Ein Geheimnis-Krämer Fall“ leidet Protagonist Tycho unter Misophonie („Es hatte Jahre gedauert, bis er herausfand, dass er selbst an Misophonie litt: Er hasste Kau- und Essgeräusch, Niesen und Schniefen, manchmal sogar das Atmen, ganz gleich, wer es fabrizierte.“). Damit wird Heitz so einigen seiner Leser die Augen öffnen, denn noch immer wissen die meisten Misophoniker nicht, woran sie leiden. Auch denken die meisten, mit ihrem Problem völlig alleine dazustehen. Nichts könnte falscher sein, denn allen Studien zufolge leidet mindestens jeder 10te unter Misophonie. Zitate aus Markus Heitz: Lyssa: Ein Geheimnis-Krämer Fall. Knaur eBook, 2016, ISBN 9783426440636 (zitiert nach Google Books). Das Hörbuch ist exklusiv bei Amazon erhältlich.
Presseartikel
Wut in den Ohren
Die Tiroler Tageszeitung berichtet über Rico Hofmann, der an Misophonie leidet und sich mit Ohrstöpseln und Psychopharmaka ein halbwegs normales Leben ermöglicht: Link
Das Kauen anderer stört dich? Dann bist du kreativ!
Welt berichtet von eine Studie, die Kreativität mit einer verminderten Fähigkeit, störende Geräusche ausblenden zu können, in Beziehung setzt: Link
“…doch die Ärzte, die sie konsultierte, lachten das Kind damals nur aus.”
“Kann man gegen bestimmte Geräusche allergisch sein?”
Nichts Neues drin, aber immerhin macht es die Sache bekannter. Hier der Link. Triggerwarnung: Auf der Zielseite lässt sich ein Video starten, dass explizit Trigger enthält!
Social Media
Misophonie bei Pinterest
Schon mal bei Pinterest nach Misophonie geschaut? Ein Blick ist es allemal wert!
Am 21. April 2017 erschien das erste Soloalbum von Ankathie Koi mit dem Titel „I Hate The Way You Chew“. Koi: „Ich leide tatsächlich unter einer Art selektiver Geräuscheintoleranz. Wenn jemand laut isst, dann bekomme ich eine Gänsehaut. Meine Schwester hat sehr geräuschvoll gekaut. Wegen ihr bin ich immer zu spät zur Schule gekommen, weil ich in ihrer Gegenwart nicht essen wollte. Meine Mama hat deshalb oft durchgedreht.“
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Uwe P. Werner: Misophonie – wenn man Geräusche hasst
Als ich Anfang 2016 durch meinen betroffenen Sohn zum ersten Mal mit dem Thema Misophonie konfrontiert wurde, gab es noch keine deutschsprachige Literatur zum Thema. Ich habe dann alle englischsprachige Titel zum Thema gelesen und fand das Buch ‚Understanding and Overcoming Misophonia‘ von Thomas H. Dozier am hilfreichsten. Thomas ist Vorreiter in der Erforschung der Erkrankung. Ich habe die Rechte für die deutsche Übersetzung erworben und das Buch übersetzen lassen, es ist unter dem Titel ‚Misophonie verstehen und überwinden‘ am 1. Juni 2016 im deutschen Buchhandel erscheinen. Mittlerweile habe ich bereits eine zweite erweiterte Fassung des Buches veröffentlicht. Ich hoffe, dass das Buch vielen bei ihrer Suche nach Heilung hilft.
Wie ich an das Thema Misophonie gekommen bin: Mein eigener Erfahrungsbericht – zwölf Jahre auf der Suche nach Hilfe
„Ich kann es nicht haben, wenn ich Mama essen höre. Darf ich das Radio anmachen?“Mein Sohn war 12, als er das beim Mittagessen zum ersten Mal sagte. Bestürzt nahmen wir den Hass und die Verzweiflung in seinem Blick wahr. Wir konnten uns nicht erklären, was los war. Er machte gerade eine schlimme Zeit in der Schule durch, in der er Mobbing und Ausgrenzung erfahren musste. Und nun konnte er nicht mehr mit der Familie am Tisch sitzen. Er fing überhaupt an, alle Situationen zu meiden, bei denen gegessen wurde. Kein abendliches gemeinsames Fernsehen, keine Kinobesuche, kein Essen gehen – es gab fast keine gemeinsamen Unternehmungen mehr. Meine Frau war völlig fertig – das Gefühl, dass das eigene Kind sich vor ihr ekelte, belastete sie schwer. Es wurde immer schlimmer, er konnte dem Unterricht in der Schule nicht folgen, wenn jemand in der Klasse Kaugummi kaute – und einer kaute eigentlich immer, auch die ein oder andere Lehrperson. Wir Eltern ahnten nicht einmal, wie schlecht es ihm dort ging – und er durchlitt die Hölle. Als psychotherapeutischer Heilpraktiker, spezialisiert auf Phobien und Zwangserkrankungen, erkannte ich in seinen Stresssymptomen gleich die Anzeichen einer Phobie – eine „Kauphobie“ habe ich es genannt. Ein fataler Irrtum. Alle meine Methoden, die sonst so wunderbar halfen, blieben bei meinem Sohn wirkungslos. „Du kannst als Vater dein Kind nicht therapieren!“ sagte man mir, also schickten wir ihn zu anderen Therapeuten – Jugendpsychologen, Klopftherapeuten, Kinesiologen, und später Verhaltenstherapeuten und auch einem Therapeuten für Traditionelle Chinesische Medizin. Zwischendurch Familienaufstellungen, Aggressionsseminar, Reiki und noch vieles mehr – alles ohne den geringsten Erfolg. Es wurde immer schlimmer. Unsere familiäre Situation war stark belastet, wir Eltern suchten verzweifelt nach einer Ursache. Was hatten wir bloß derart falsch gemacht, dass es unserem Kind so schlecht ging? Mit 18 rutschte er in eine Depression und bekam Antidepressiva (Citalopram), was seine Empfindlichkeit Geräuschen gegenüber etwas zu verbessern schien. Leider nur kurzzeitig. Während der Ausbildung (er hatte einige Praktika absolviert und sich dann begeistert für eine Ausbildung zum Erzieher entschieden) litt er sowohl in der Schule als auch in seiner Wohngemeinschaft wegen unterschiedlichster Nebengeräusche (Bassbrummen der Musik der Zimmernachbarn, Fiepen der Heizung etc.), so dass er keine Möglichkeit zur Erholung hatte. Er fing an, sein Leben zu hassen. Niemand schien sein Leid nachvollziehen zu können, kein Therapeut hatte je von solchen Symptomen gehört. Alle Therapieversuche waren wirkungslos, keine Hilfe in Sicht. Er brach seine Ausbildung ab und war völlig verzweifelt. Und die ganze Familie mit ihm. Dabei ist er intelligent, handwerklich begabt, hilfsbereit, sozial kompetent – sobald aber jemand in seiner Umgebung aß oder kaute (inzwischen reichte schon der Anblick sich bewegender Kiefer) war er nicht mehr er selbst. Dann, er war inzwischen 24 Jahre alt, nach über 12 Jahren des Suchens und erfolglosen Therapierens, ein Lichtblick: Auf der Suche nach einer Möglichkeit, bei einem Computerspiel die Kaugeräusche, die ertönten, wenn Energie getankt wird, auszuschalten, fand er im Internet etliche Leidensgenossen, die genau dieses Geräusch auch maßlos störte. Und einer schrieb: „Da springt meine Misophonie voll an“. Mit dem Satz: „Ich weiß jetzt, was ich habe, es heißt Misophonie!“ kam er zu mir. Und zusammen begannen wir zu recherchieren. Ich las alles, was es an Büchern zum Thema gab – nicht viel, und alles auf Englisch. Meist waren es deprimierende Selbsterfahrungsberichte, alle mit dem Konsens „Misophonie ist nicht heilbar“. Eins aber war anders. Der amerikanische Familientherapeut Thomas Dozier hatte jahrelang auf dem Gebiet geforscht und entdeckt, dass Misophonie etwas ganz anderes als eine Phobie ist, ja dass die Art, wie Phobien behandelt werden, Misophonie sogar noch schlimmer macht. Er beschreibt sie als erworbenen Reflex, bei dem eine Muskelreaktion eine zentrale Rolle spielt. Alles, was Thomas zum Thema zu sagen hatte, passte genau zu dem, was mein Sohn durchlebt und durchlitten hatte. Sogar den Muskelreflex konnten wir anhand Thomas‘ Anleitung identifizieren und üben jetzt gezielt, die misophonische Reaktion aufzulösen. Die Erleichterung allein dadurch, dass es nun endlich eine richtige Diagnose gab, war enorm. 12 Jahre lang, sein halbes Leben also, hatte unser inzwischen erwachsenes Kind von allen Therapeuten gehört, dass es sich den belastenden Situationen nicht entziehen dürfe – denn Konfrontation ist bei der Therapie von Phobien die übliche Methode. Er zwang sich also, seine Trigger auszuhalten. Auch ich als Vater hatte ihn darin bestärkt, die Konfrontation zu suchen und ihr keinesfalls aus dem Weg zu gehen. Aber Misophonie ist keine Phobie. Mittlerweile wissen wir, dass dies bei Misophonie der absolut falsche Weg ist. Und uns ist klar geworden, warum sich sein Zustand immer weiter verschlechterte: nicht trotz, sondern wegen der Therapien. Allein durch das Wissen über Misophonie ist das Leben für uns sehr viel leichter und entspannter geworden. Wir können ganz anders mit der Situation umgehen und sind auf einem guten Weg. Die Tatsache, dass es noch keinerlei deutschsprachige Literatur über Misophonie gab, veranlasste mich, Thomas nach den Übersetzungsrechten für sein Buch zu fragen. Er willigte begeistert ein, so dass es nun endlich ein Buch in deutscher Sprache zum Thema gibt. Außerdem behandle ich mittlerweile selbst mit der Methode nach Thomas Dozier, mit der „Neural Repatterning Technique“. Ich hoffe, dass das Buch vielen Misophonikern, ihren Familien und Freunden eine Hilfe sein wird.
Andreas Seebeck, Juni 2016
Ryans Geschichte – „Hör damit auf oder ich bringe dich um!“
„Meine Misophonie trat auf, als ich ungefähr sechs oder sieben Jahre alt war. Wenn meine Eltern mit mir schimpften, hielt ich mir die Ohren zu und bat sie, mich nicht anzuschreien. Sie schrien nicht wirklich, doch ich habe zusätzlich zu meiner Störung auch noch ein überdurchschnittliches Hörvermögen. Als wir das von einem Hals-Nasen-Ohrenarzt überprüfen ließen, redete meine Mutter jedoch während des Hörtests mit dem Arzt, und so dachten sie, dass ich halb taub wäre. Ich würde sagen, dass meine Trigger sich über die Jahre hinweg vervielfältigt haben. Anfangs störten mich nur Kaugeräusche, aber als ich zur Uni ging, verschlimmerte sich alles unglaublich schnell. Selbst wenn nur die Möglichkeit besteht, dass jemand im gleichen Zimmer essen wird, stehe ich auf und gehe raus, aus Angst vor dem was passieren könnte. Vogelgezwitscher (es begann in meinem ersten Studienjahr in der Uni, weil die Vögel vor meinem Schlafzimmerfenster keine Ruhe gaben), das Klicken eines Kugelschreibers, das Klopfen von Fingernägeln, Tastaturgeräusche vom Handy, schweres Atmen, jegliches Geräusch, das durch die Wände dringt, aber ganz besonders Stimmen, Schniefen, Räuspern, der Bass von Musik und vieles mehr. Meine Misophonie hat sich so weit entwickelt, dass jedes sich wiederholende Geräusch mich wahnsinnig macht. Ich bin dauernd auf der Hut vor Triggergeräuschen und schlafe deswegen immer mit Kopfhörern, weißem Rauschen und einem Ventilator auf höchster Stufe. Freunde und Familienmitglieder wissen schon länger, dass etwas mit mir los ist, denn sobald ich einen Trigger wahrnehme, werfe ich ihnen einen Blick zu, der ihnen sagt: „Hör damit auf oder ich bringe dich um!“. Sie hören dann auch sofort mit dem auf, was sie gerade tun, und entschuldigen sich, woraufhin ich mich natürlich furchtbar fühle. Zu essen ist ja schließlich normal und man sollte sich dafür nicht entschuldigen müssen. Ich weiß ja, dass ihr Verhalten absolut in Ordnung ist. Sie lösen diese fürchterlichen Emotionen in mir ja nicht mit Absicht aus, und die Geräusche, die mich nerven, sind schließlich Alltagsgeräusche. Doch in dem Moment kann ich nur an das Geräusch denken, und wenn ich ihm nicht entkommen kann (ich ziehe mich wenn möglich zurück), dann drehe ich durch. Im Studentenwohnheim an der Uni konnte ich zum Beispiel meine Zimmernachbarn hören, und da ich diesem Geräusch nicht entkommen konnte, flippte ich aus und fing an, gegen die Wände zu schlagen und zu brüllen. Ich kochte nur so vor Wut. Später schämte ich mich dann für mein unkontrolliertes Verhalten, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun. Wenn ich dem Geräusch nicht entkommen kann, fühlt es sich nach ungefähr fünf Minuten so an, als ob die Leute mich mit Absicht nerven wollen. Natürlich griff der Leiter des Studentenwohnheims ein, und ich wohne jetzt nicht mehr auf dem Campus. Nachdem ich meiner Familie die Forschungsergebnisse von misophoniatreatment.com vorlegte, zeigten alle weit mehr Verständnis. Meine Mutter ist rücksichtsvoller als mein Vater. Seine Kaugeräusche, auch wenn er mit geschlossenem Mund kaut, sind mein absolut größter Trigger. Er kaut wirklich dauernd an seinen Nägeln, seiner Lippe oder der Innenseite seiner Wange. Meine Schwester und mein Vater leiden außerdem am Tourette-Syndrom. Stellen Sie sich mal vor wie schwer es ist, an Misophonie zu leiden und mit Leuten zusammenzuwohnen, die zwanghaft bestimmte Handlungen wiederholen und Laute von sich geben. Ich bin inzwischen fast ständig alleine auf meinem Zimmer. Es stört mich nicht, für mich zu sein, und ganz ehrlich – ich fühle mich viel weniger gestresst, weil ich keine Triggergeräusche befürchten muss. Leider heißt das aber auch, dass ich meine Familie fast nie sehe, obwohl ich mit ihr zusammen wohne. Hinzu kommt, dass mich laute Geräusche jedes Mal fast zu Tode erschrecken. Taub zu sein erscheint mir inzwischen als die einzige Möglichkeit, mich in der Gegenwart anderer Leute wohl zu fühlen. Ich wüsste gern was ich tun könnte, um weniger isoliert zu leben. Ich liebe schließlich meine Familie und möchte gerne Zeit mit ihr verbringen, aber es ist mir einfach nicht möglich.“
Extreme emotionale Reaktionen sind das Kennzeichen von Misophonie, wie Judys nachstehender Kommentar erläutert.
Judys Geschichte – “Mein Sozialleben ist ein Alptraum”
„Ich bin jetzt 54 Jahre alt, und es kommt mir vor, als kämpfte ich schon mein ganzes Leben lang mit meinem Problem. Erst vor Kurzem fand ich heraus, dass es einen Namen hat. Einer meiner Arbeitskollegen treibt mich mit seinem ewigen Schniefen und Husten in den Wahnsinn, und das so sehr, dass sich meine Wut in Mordlust verwandelt. Ich weiß, es klingt schlimm, doch ich wünsche mir manchmal, dass er einfach tot umkippt. Andere Misophoniker können das sicherlich nachempfinden. Mein armer Mann versteht, wie ich mich fühle und tut sein Bestes, um Geräusche zu vermeiden, die ich nicht ausstehen kann. Ich weiß manchmal gar nicht, wie er es mit mir aushält. Ich habe diese Störung von meinem Vater geerbt und an eine meiner Töchter weitergegeben. Mein Sozialleben ist ein Alptraum.“
Judy wünscht sich, ihr Arbeitskollege möge tot umkippen! Es ist schwer für jemanden, der nicht an Misophonie leidet, solche extremen Emotionen nachzuempfinden, denn Nicht-Betroffene können nicht verstehen, was ein Misophoniker durchmacht, wenn er wiederholten Triggergeräuschen ausgesetzt ist, ohne ihnen entkommen zu können.
Bills Erfahrungsbericht – “Die Uni war die Hölle – Schniefen, Kaugummikauen, Husten und Gescharre”
„Es kommt mir vor, als ob ich die Details aller dieser Misophonie-Erfahrungsberichte genau kenne – ich kann genau nachempfinden, was diese Menschen durchmachen. Ich hatte vor Kurzem eine Krise, daraufhin wurde Misophonie bei mir diagnostiziert und seitdem beschäftige ich mich damit und recherchiere – besonders auch im Internet. Die Symptome der Misophonie habe ich schon seit meiner frühesten Kindheit. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Familienurlaub, eine Autoreise, die über 4000 km lang war. Auf dieser Reise bemerkte ich das laute Atmen meines kleinen Bruders. Zwar versicherte mir meine Mutter, dass alles in Ordnung sei, aber schon bald fingen mein Bruder und ich an, uns anzubrüllen. Ich klemmte schließlich meinen Kopf zwischen das Autofenster und meinen Arm, so dass ich meinen Bruder nicht mehr hören konnte. Dieses Szenario wiederholte sich des öfteren in meiner Familie. Bei gemeinsamen Mahlzeiten waren Angst, Wut, Kränkungen, Verlassenheit und Selbsthass an der Tagesordnung. Ob am Tisch oder auf Ausflügen – ich verbrachte wenig Zeit mit meiner Familie. Ich suchte nach einsamen Orten an der frischen Luft. Damals dachte ich, ich sei ein Naturliebhaber, doch jetzt frage ich mich, ob ich nicht einfach auf der Suche nach Ruhe war – auf der Flucht sozusagen. Die Uni war die Hölle – Schniefen, Kaugummikauen, Husten und Gescharre. Zum Schluss ging ich gar nicht mehr in meine Vorlesungen, sondern lernte alleine oder mit einem guten Freund. Miso spielte in allen meinen festen Beziehungen eine Rolle und führte sogar zu einer Scheidung. In jungen Jahren war ich abhängig, bin aber schon seit 27 Jahren abstinent, obwohl es nicht immer einfach ist. Offensichtlich sind Alkohol oder Drogen kein Weg, Miso in den Griff zu bekommen. Ich bin jetzt 51 Jahre alt und stehe an einem Wendepunkt, denn die Diagnose gibt mir eine neue Perspektive. Ich hatte die Angstgefühle am Esstisch schon vergessen; den Selbsthass und den Gesichtsausdruck meines Bruders, wenn ich ihn wütend und hasserfüllt anstarrte. Niemand verdient es, so behandelt zu werden, und ich hasste mich selbst dafür. Sicher war es nicht einfach, mit mir unter einem Dach zu leben. Letzten Endes wurde ich zum Einzelgänger, es war einfach zu schwierig, unter Menschen zu sein. Zwar gab es einige Personen in meinem Leben, die mir viel bedeuteten, doch die Miso machte sich immer wieder bemerkbar. Was mir an dieser Diagnose Mut macht, ist, dass ich nun endlich weiß, dass ich wirklich krank bin und nichts dafür kann. Mir wurde immer gesagt, dass es nur Einbildung ist, dass ich es ignorieren soll. Schließlich glaubte ich sogar selbst, dass ich einfach kaputt bin. Inzwischen bin mit einer sehr verständnisvollen Frau zusammen. Sie ist davon überzeugt, dass wir das zusammen schaffen, und ich hoffe, sie hat damit recht. Langsam bin ich es leid zu glauben, dass ich kaputt bin. Ich verstehe, dass es für andere nicht einfach ist, mit mir klarzukommen, und mein Ringen mit der Misophonie zu respektieren. Ich verstand bis jetzt nicht, dass dieser Zustand jenseits meiner Kontrolle liegt, und dass es in Ordnung ist, um Hilfe zu bitten. Für mich klingt es wie ein Märchen, dass ich um Hilfe bitten darf. Diejenigen Misophoniker, die den Mut haben, das zu tun, haben meine Hochachtung. Ich möchte mich für die Chance bedanken, meine Geschichte hier erzählen zu dürfen.“
Das folgende Gedicht drückt einige Gefühle einer Misophonikerin aus.
“Jeder Bissen fräst sich in meinen Gehörgang”
Meine Misophonie
von Angela Muriel Inez Mackay
Meine Misophonie ist keine Laune. Ich will mich durch sie nicht in den Mittelpunkt stellen. Ich muss nicht einfach mal an die frische Luft oder eine Tablette schlucken.
Meine Misophonie ist keine Intoleranz. Sie ist keine Ausrede, um gemein zu sein – und NEIN, ich habe nicht gerade meine Tage.
Ich weine nicht, weil ich traurig bin. Ich weine aus Wut, weil ich nicht weiter weiß. Ich weine, weil ich Angst habe, dass es dir einfach zu viel wird. Dass du mich wegschieben wirst.
Ich trage die Kopfhörer nicht aus Trotz oder weil ich nicht hören will, was du mir zu sagen hast. Ich trage die Kopfhörer ironischerweise, weil ich mich nach Ruhe sehne.
Mein Motto lautet: „Ich bin schuld, nicht du“. Das sage ich mir dauernd, während du kaust.
Jeder Bissen fräst sich in meinen Gehörgang. Jedes Kratzen deiner Gabel ballt meine Hand zur Faust. Jedes Rascheln der Tüte lässt mich schaudern.
Es bringt mich um, wenn du über meinen Schmerz lachst. Dein Kaugummi verspottet mich, und anstatt dich zu entschuldigen, sagst du nur: „Es ist doch nur ein Geräusch!“
Na klar, für dich ist es nur ein Geräusch. Aber für mich ist es mein schlimmster Alptraum.
Mich treibt es dazu, Leute zu meiden, keine Pläne zu machen, nicht mit Freunden essen zu gehen.
Wegen dieses Geräusches möchte ich nur noch zuhause bleiben.
Und ich frage mich, wozu ich mich noch anstrenge.
Meine Misophonie macht mir Angst. Jeden Tag habe ich Angst, dass Leute nicht mehr mit mir klarkommen, dass sie denken, dass ich überempfindlich bin, dass ich „intolerant“ bin.
Meine Misosphonie ist ein Teil von mir, und es tut mir leid.
Es tut mir leid, dass ich dich wütend anstarre, dass ich vor dir zusammenzucke, dass ich dich ankeife.
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