Hilfe für Misophoniker kommt aus Lohne – Erkrankung noch wenig erforscht
Das Knacken einer Möhre wird für Misophoniker zum Horrortrip. Andreas Seebeck versucht, Betroffenen mit einer Methode zu helfen, die an der Uni Amsterdam entwickelt wurde.
LOHNE/BIELEFELD – Es schmatzt und knackt – und ist kaum zu ertragen. Die speziellen Kaugeräusche, die man beim Essen mit Zunge, Kiefer und Mund verursacht, treiben manche Menschen in den Wahnsinn. Wem es so geht, der leidet eventuell unter Misophonie.
Der Name setzt sich aus dem griechischen „Misos“ für Hass und „Phone“ für Geräusch zusammen: „Hass auf Geräusche“ also. Misophoniker können auch auf andere Auslöser anspringen, etwa das Hämmern des Kollegen auf Computertastaturen. Aber die Mehrheit erträgt keine Kaugeräusche.
„Ich kann es nicht haben, wenn ich Mama essen höre. Darf ich das Radio anmachen?“ Mit diesem Satz schockte Jelle Homrighausen als Zwölfjähriger seine Eltern am Mittagstisch. Wenig später fing er an, alle Situationen zu meiden, bei denen gegessen wurde. „Am Tisch habe ich mich möglichst weit weg gesetzt von meiner Mutter. Ich bekam schon Wut, wenn ich nur ihre Kieferbewegungen sah. Dann habe ich auf meinen eigenen Teller gestarrt und bin so schnell wie möglich aufgestanden“, erzählt Homrighausen. Das Schlimmste für ihn sind Kaugummi kauende Menschen.
Andreas Seebeck, sein Vater und psychotherapeutischer Heilpraktiker in Lohne (Kreis Vechta), erkannte in den Symptomen Anzeichen einer Phobie. „Ich nannte sie Kauphobie. Doch keine Therapie half“, erinnert sich Seebeck. Was folgte, war eine jahrelange Tournee von Therapeut zu Therapeut, von Psychologe zu Psychologe. Unterbrochen von Anti-Aggressionsseminaren, Hypnosesitzungen und Klopftherapien. „Nichts hat etwas gebracht. Ganz im Gegenteil. Gerade durch Konfrontationstherapien, mit denen Phobien behandelt werden, wurde alles noch viel schlimmer“, so Seebeck.
Weil es in Deutschland weder Wissen noch Literatur über Misophonie gab, machte sich der Therapeut im Ausland schlau. Er fand Erklärungen in einem Misophonie-Buch des Amerikaners Thomas Dozier. „Ich war verblüfft, wie viele Leute daran leiden. Internationale Studien schätzen vorsichtig, dass jeder 10. bis 20. auf Geräusche anspringt, die er nicht aushalten kann“, sagt Seebeck.
Das Phänomen unterschätzt hatte auch die Universität Bielefeld: Um herauszufinden, ob es sich um eine psychische Störung handelt oder um ein Begleitsymptom einer anderen Erkrankung, startete Wissenschaftlerin Hanna Kley 2018 eine Studie zu Misophonie. Statt 20 bis 30 gesuchter Probanden meldeten sich innerhalb kürzester Zeit 200 Menschen.
Kley: „Wir haben im ersten Schritt Interviews mit Betroffenen geführt, die angaben, unter ihrer Geräuschempfindlichkeit, zum Beispiel in Bezug auf Kaugeräusche, so zu leiden, dass sie sich im Alltag eingeschränkt fühlen.“ Das könne der Fall sein, wenn Menschen vermeiden, Bus oder Bahn zu fahren – neben ihnen könnte ja jemand eine Brötchentüte auspacken.
Auffällig ist für Kley, dass sich die Geräuschempfindlichkeit besonders oft auf nahestehende Angehörige konzentriert. „Das belastet zusätzlich, weil die Betroffenen ausgerechnet gegenüber geliebten Menschen in bestimmten Momenten Wut und Hass empfinden.“
Andreas Seebeck versucht inzwischen selbst, Misophonikern zu helfen. Er sammelt Erfahrungen mit einer Methode, die Wissenschaftler der Universität Amsterdam entwickelt haben, indem sie die auslösenden Geräusche verfremden, sie schneller oder langsamer, höher oder tiefer abspielen. Das könne leichte Verbesserungen bringen. Sein Sohn mag nichts mehr ausprobieren. Bei ihm ist über die Jahre noch eine Depression dazugekommen. „Seit ich Medikamente dagegen nehme, ist wenigstens die extreme Wut weg“, gesteht der heute 27-Jährige.
Foto: Markus Hibbeler/dpa-tmn