Was im Gehirn passiert

Blau eingefärbtes Röntgenbild eines Kopfes, Seitenansicht, im mittleren Bereich rot eingefärbt

Extreme Emotionen wie Wut, Ekel oder Verbitterung überwältigen den Misophoniker, evtl. fühlt er sich auch beleidigt und / oder angegriffen. Auch können Hilflosigkeit oder Trostlosigkeit ebenfalls zu diesen starken Gefühlen gehören.

Warum ist es nicht möglich, diese Emotionen zu unterbinden?
Für die Misophonie sind nur die unbewussten Teile des Gehirns verantwortlich (das Reptiliengehirn [ auch Hirnstamm genannt] löst den emotionalen Reflex des limbischen Systems aus). Deshalb können Misophoniker ihre Reaktion auf den Trigger genauso wenig kontrollieren wie z.B. einen Schweißausbruch.
Auch die äußeren Umstände sind unwichtig – der Triggerstimulus löst die Emotionen jedes Mal aus, wenn unser Reptiliengehirn ihn wahrnimmt.

Was geschieht wenn Sie einem Trigger ausgesetzt sind?
Es ist nicht so einfach wie es scheint, denn Misophonie ist ein zweiteiliger Prozess.

  1. Sie sehen oder hören einen Trigger, dieser löst einen körperlichen Reflex in Ihnen aus. Dieser Reflex ist aversiv, unangenehm und ungewollt.
  2. Der körperliche Reflex löst Ihre extremen Emotionen aus, so wie allgemeine physiologische Reaktionen, die von Ihrer emotionalen Erregung stammen. Diese Reaktionen schließen Druck im Brustkorb, Kopf oder gar im ganzen Körper ein, sowie Muskelanspannung, feuchte Hände, Atemnot, hohen Blutdruck und schnellen Puls. Wegen dieser starken Reaktionen wird der Reflex selbst normalerweise nicht wahrgenommen.
Alle Elemente zwischen dem Triggerstimulus und der emotionalen Reaktion

Wie die körperlichen Reflexe auf Behandlungen und unterschiedliche Triggerstärken ansprechen, deckt sich mit Forschungsergebnissen zu Reflexen im allgemeinen. Der misophonische Reflex ist also ein angeeigneter, aversiver, körperlicher Reflex, bzw. ein konditionierter oder Pavlov’scher Reflex.
Der Begriff „Bewältigungsstrategie“ beschreibt, was Sie tun sollten, wenn Sie einen Trigger wahrnehmen.

Beispiele zur Bewältigung:
– sich die Ohren zuhalten
– das Geräusch nach-äffen
– ihre Triggerperson auffordern, mit dem Geräusch aufzuhören
– sich zurückziehen

Der körperliche Reflex

Es scheint so, als ob die extremen Emotionen eine direkte Reaktion auf einen Trigger sind. Die folgende Abbildung illustriert diese Auffassung von Misophonie:

Der Triggerstimulus führt scheinbar direkt zur extremen Emotion

Diese Zeichnung ist aber unvollständig, es fehlt ein entscheidender Zwischenschritt! Der Trigger löst nicht die Emotionen aus, sondern einen körperlichen Reflex. Erst dieser Reflex ruft dann die extremen Emotionen hervor.

Die tatsächliche Ereigniskette sieht also so aus:

Der Trigger erzeugt den Muskelreflex, welcher wiederum für die Emotion verantwortlich ist

Diesen unfreiwilligen Muskelreflex bestätigen über 95% meiner Patienten.
Ein Geräusch löst eine bestimmte körperliche Reaktion aus.

Beispielsweise die Muskelanspannung:
– des Nackens
– der Schultern,
– des Brustkorbs
– der Arme
– des Gesichts
– der offenen oder geballten Hand
– der Füße
– Beine
– Zehen oder des Pos.


Manchmal sind die Reflexe auch intern, so wie in der Speiseröhre oder im Magen. Der Misophoniker spürt eventuell Übelkeit, sexuelle Erregung oder Harndrang.

Es gibt eine Vielzahl von Reflexen, und bei einigen sind sogar mehrere Muskeln beteiligt. Ein Patient beschrieb, dass er sich jedes Mal so fühle, als ob er einen Ball fangen würde, der gegen seinen Brustkorb prallt – beide Hände schossen nach oben, seine Ellbogen pressten sich an den Körper. Folgendes Video zeigt eine solche Reaktion. TRIGGERWARNUNG: Im Video ist ein Schniefen zu hören.

Die Individualität der körperlichen Reflexe bestätigt, dass Misophonie keine plötzlich auftauchende genetische Störung ist, sondern dass sie sich aus der Neurologie und den Erfahrungen der jeweiligen Person heraus entwickelt.
Einige körperliche Reflexe sind fast nicht wahrnehmbar, z.B. eine ruckartige Bewegung des Kopfes oder ein Augenzucken. Andere hingegen sind sehr stark.

Eine Person sagte, ihr Reflex fühle sich an, als ob sie jemand mit einem Spaten quer durch die Brust aufspieße, eine andere sagte, es sei ein Gefühl als ob jemand ihr eine Nervenfaser aus der Wirbelsäule zöge.

Obwohl es bei 30 – 40 Millionen Misophonikern natürlich Gemeinsamkeiten gibt, findet man wahrscheinlich keine zwei genau übereinstimmenden Beschreibungen.

Der körperliche Reflex ist immer da, wird wegen der extrem starken Emotionen aber normalerweise nicht wahrgenommen, weil diese sozusagen über allen anderen Empfindungen liegen.

Bei einer meiner Patientinnen konnten ihre Mutter und ich ein Achselzucken sehen, während sie selbst nichts davon spürte.

Bei einem anderen Patienten war es ein Zucken im Bein, bei wieder einem anderen ein Stirnrunzeln. Auch sie spürten ihren Reflex erst nach langem Suchen.

Es ist wie ein Doppelschlag beim Boxen: erst der kaum spürbare körperliche Reflex und sofort danach die überwältigenden Emotionen, oder die Flucht-oder-Kampf-Reaktion. Die körperliche Reaktion ist viel schwächer als die emotionale und deshalb sehr schwer wahrzunehmen.

Wenn Sie ihren körperlichen Reflex genau bestimmen wollen, brauchen sie dazu einen schwachen Trigger – kurz und leise, also eine halbe Sekunde oder weniger, und fast unhörbar, am besten als Aufnahme. Der Trigger soll so leise sein, dass er zwar den Reflex, aber keine negative misophonische Reaktion auslöst. So können Sie bewusst Ihren Reflex wahrnehmen. Zum Aufnehmen und Abspielen können Sie z.B. meine kostenlose „Misophonia Reflex Finder App“ verwenden, mit ihr lassen sich auch Dauer und Lautstärke genau einstellen.

Die Identifizierung des Triggermuskels kann ein wichtiger Schritt sein zu einer dauerhaften Auflösung der misophonischen Reaktion.

Reflexe

Unser Hirnstamm (ach Reptiliengehirn genannt) kontrolliert unsere Reflexe. Wenn es einen Stimulus wahrnimmt, löst es eine sofortige physiologische Reaktion aus. Der Stimulus kann intern sein: ein erhöhter Kohlendioxidspiegel im Blut veranlasst uns, schneller zu atmen. Der Stimulus kann auch extern sein: wir schrecken aufgrund eines lauten Geräusches zusammen.

Sie können Ihre Reflexe nicht kontrollieren. So bestimmen Sie beispielsweise nicht, ob Sie schwitzen wollen oder nicht. Wenn Sie hellem Licht ausgesetzt sind, ziehen sich Ihre Pupillen ganz automatisch zusammen. Ihr Verdauungssystem, Ihr Herzschlag und Ihr Schreckreflex werden ebenfalls ohne Ihre bewusste Entscheidung vom Reptiliengehirn kontrolliert.

Einige Ihrer Reflexe sind angeboren, während andere im Laufe des Lebens entstehen. Diese Entwicklung heißt klassische oder Pavlov’sche Konditionierung und beginnt sofort nach Ihrer Geburt. 1901 führte Pavlov eine Studie mit Hunden durch, um deren Verdauung und Speichelfluss zu erforschen. Eines der Experimente diente dazu, die produzierte Speichelmenge der Hunde abhängig von der jeweiligen Fleischmenge, die sie fraßen, zu messen. Dabei entdeckte er, dass die Hunde schon Speichel produzierten, bevor sie das Fleisch fraßen. Das brachte ihn auf die Idee, herauszufinden, ob er den Speichelfluss der Hunde auch mit einem Glöckchen auslösen könne.

Bevor er den Hunden das Fleisch gab, das ihren Speichelfluss auslöste, klingelte er mit dem Glöckchen. Er wiederholte den Ablauf: Klingeln-Fleischgabe-Speichelfluss, Klingeln-Fleischgabe-Speichelfluss. Dann ließ er das Fleisch weg und die Hunde produzierten dennoch Speichel. Das Gehirn hatte das Klingeln mit dem Speichelfluss verbunden, denn es wusste, dass das Fleisch folgen würde. Nachdem sich der Ablauf mehrmals wiederholt hatte, lernte das Reptiliengehirn, dass der Ton signalisierte, dass Speichel benötigt wurde. So verknüpfte das Reptiliengehirn den Stimulus (das Klingeln) mit der Reaktion (Speichelproduktion). Über Jahre hinweg glaubten Forscher, dass sich der Reflex entwickelt habe, weil das Klingeln mit der Fleischgabe verbunden werde, aber neueste Studien zeigen, dass es wie beschrieben mit dem Speichelfluss gekoppelt ist.

Wichtig zum Verständnis der Misophonie ist, dass wir den konditionierten Reflex als eine Verbindung zwischen dem Stimulus und der körperlichen Reaktion betrachten. Als ich damit begann, Misophonie und die Entwicklung des misophonischen Reflexes zu untersuchen, stellte ich fest, dass es keinen unkonditionierten Stimulus gibt (so wie Fleisch, das das Speicheln der Hunde auslöst). Es gibt jedoch eine Verknüpfung des Triggerstimulus mit dem ersten misophonischen körperlichen Reflex, und dieser ist dem Betroffenen normalerweise völlig unbewusst.

Ein konditionierter Reflex entwickelt sich, wenn zwischen den beiden Stimuli nicht mehr als zwei Sekunden, am besten nur eine halbe, liegen. Wenn ich z.B. mit einer kleinen Glocke als Stimulus klingele und Sie eine halbe Sekunde danach in die Seite stupse (2. Stimulus), und diesen Vorgang einige Male wiederhole, würden Sie schließlich dem Klingeln zusammenschrecken, auch wenn ich Sie nicht stupse.
Konditionierte Reflexe verlieren sich wieder, wenn die Reaktion nicht mehr provoziert oder erzwungen wird. Bei den Pawlov´schen Hunden verliert sich der Reflex (das Speicheln nach dem Klingeln), wenn über einen längeren Zeitraum kein Fleisch nachgeliefert wird.

Bei Misophonie hören die Reflexe jedoch nicht auf. Offensichtlich verstärkt sich der misophonisch-konditionierte Reflex, wenn ein Trigger wahrgenommen wird. Wenn Sie einen Trigger hören (z.B. Kaugeräusche) wird der Reflex ausgelöst. Danach erfolgt der emotionale Schub, durch den sich die Muskelanspannung noch weiter erhöht. Ihr Reptiliengehirn verbindet jetzt das Geräusch mit einer starken Muskelanspannung und glaubt, beim nächsten Trigger den Muskel noch stärker anspannen zu müssen. Dieser starke emotionale Schub nach dem Trigger scheint dafür verantwortlich zu sein, dass der Reflex sich bei jedem Trigger verfestigt, anstatt nachzulassen.

Misophonie und schmerzinduzierte Aggression

Es wird Ihnen leichter fallen, Ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, wenn Sie Misophonie als einen körperlichen Reflex betrachten. Bislang wurde Ihnen gesagt, Sie sollten sich einfach beruhigen, und ihre Mitmenschen waren vielleicht sogar der Meinung, dass Sie sich alles nur einbilden. Sicherlich waren Sie unglaublich wütend auf ihre Triggerpersonen, obwohl das eigentlich wider Ihre Natur ist. Möglicherweise wollten Sie sie sogar verletzen oder sagten und taten Dinge, die Sie hinterher bereuten. Aber Misophoniker haben keine Wahl. Ohne Behandlung empfinden sie den Reflex als einen Angriff. Das bilden Sie sich nicht einfach ein – sie werden tatsächlich von Ihrem Reptiliengehirn angegriffen. Es nimmt das Geräusch wahr, sendet einen elektrischen Impuls, und dieser löst eine unkontrollierbare Wut aus.

Eine an Mäusen in elektrisch geladenen Käfigen durchgeführte Studie verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem elektrischen Impuls und der misophonischen Wut, welche diese Angriffslust provoziert. (Ich möchte anmerken, dass ich diese Studie nicht durchgeführt habe und Tierversuche nicht befürworte.) Mäuse, die einen elektrischen Schlag abbekamen, griffen die nächstbeste Maus an, obwohl diese ihnen nichts getan hatte. Wir nennen das schmerzinduzierte Aggression. Das Gleiche geschieht bei Misophonikern – der elektrische Impuls löst ihre aggressiven Emotionen aus. Diese sind so extrem, dass sie den eigentlichen Impuls gar nicht bemerken, doch er existiert und er ist es, der ihre misophonischen Gefühle auslöst.

Erfahrungsberichte zum Muskelreflex

Carla’s Geschichte

Wenn die 10-jährige Carla ihren primären Trigger – die Kaugeräusche ihres Bruders – hörte, wurde sie sofort wütend, konnte aber keine körperliche Reaktion wahrnehmen. Carla und ihr Bruder stritten sich oft am Esstisch und ihre Mutter berichtete, dass Carla dann mit ausgestreckten Armen aufstand (ihre Arm- und Beinmuskeln waren also angespannt) und von ihrem Bruder verlangte, dass er sie nicht so anstarren solle. In dieser Situation hörte sie ihren Bruder schmatzen. In der Klinik löste eine leise Aufnahme ihres Triggers ein sichtbares Zucken in ihren Armen und Schultern aus. Sie spürte zwar die Muskelanspannung, aber keine oder nur sehr geringe Anflüge von Wut und Ekel. Anscheinend löste der Trigger die gleiche Muskelanspannung aus wie das Streiten mit ihrem Bruder. Dies belegt die Hypothese, dass sich Misophonie als ein Pavlov’scher konditionierter Reflex entwickelt, und dass die erste Reaktion auf einen Triggerstimulus ein körperlicher Reflex ist.

Connor’s Geschichte

Als Connor, 24, seine Behandlung begann, waren Kauen, Niesen, Atmen durch den Mund und Schmatzen seine starken Audio-Trigger. Es gab auch einen visuellen Trigger, wenn nämlich jemand seine Brille anfasste. Seine Misophonie hatte sich zwei Jahren zuvor während seines Einsatzes als Marinesoldat in Afghanistan entwickelt. Nach seiner Heimkehr wurde bei ihm außerdem eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. In Afghanistan war es Teil seines Alltags, mit seinem Team auf Patrouille zu gehen, und nach der Rückkehr zur Basis auf engstem Raum mit den anderen zu essen.

Tests ergaben, dass er seine Faust ballte und seinen Kopf nach rechts drehte, egal von wo das Triggergeräusch kam. Sein Reflex ähnelte einer Reaktion auf eine Gefahr, die sich von rechts nähert. Die misophonischen Trigger lösten jedoch keine PTBS-Reaktionen aus.

Bill’s Geschichte

Bill war als 30-jähriger bei guter Gesundheit und hatte sein Leben lang keine psychischen Probleme. Bis Spottdrosseln ihr Nest vor seinem Schlafzimmerfenster bauten. Das Zwitschern der Vögel bei Tag und Nacht raubte ihm den Schlaf und er entwickelte eine misophonische Reaktion auf die fünf verschiedenen Rufe der Spottdrossel. Inzwischen sind als neue Trigger andere Vogelrufe hinzugekommen, wobei seine Reaktion auf diese weniger stark ist. Wenn Bill seinen Trigger hört, bekommt er eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen und seine Kopfhaut fängt an zu kribbeln.

Paul’s Geschichte

Paul ist ein völlig gesunder Berufstätiger mittleren Alters. Er nahm eine neue Arbeit an, bei der er oft Anrufe von Menschen entgegennehmen musste, die seine Hilfe brauchten. Er entwickelte schließlich eine Muskelanspannung in der Brust, wenn er den Standardklingelton seines Handys hörte. Es ist anzunehmen, dass die Muskelanspannung die physische Reaktion auf seine Emotionen war, die vom Stress durch die ständigen Anrufe ausgelöst wurden. Er änderte seinen Klingelton, doch nach einiger Zeit spürte er auch bei dem neuen Ton die gleiche Muskelanspannung in der Brust. Er änderte den Klingelton mehrere Male, doch das half nicht.

Schließlich schaltete er sein Handy auf Vibration, aber es dauerte nicht lange, bis er auch darauf reagierte. Als sogar das Klingeln eines Telefons im Fernsehen als Auslöser wirkte, wurde ihm klar, dass das Klingelgeräusch sein Trigger war.

Paul erklärte: “Ich höre das Klingeln, meine Brustmuskeln zucken, und es gefällt mir nicht!“ Ihm missfiel zwar sein körperlicher Reflex, aber er spürte keine der Emotionen, die normalerweise mit den problematischen Anrufen einhergingen. Er beeinträchtigte keineswegs seine Arbeitsleistung, war aber ein aversiver Reflex auf ein übliches Geräusch. Jeglicher aversive Muskelanspannungsreflex auf einen Auslöser kann als misophonischer Reflex bezeichnet werden.

Aus: Misophonie verstehen und überwinden von Thomas Dozier

Bilder: Thomas Dozier