Hilfe für Misophoniker kommt aus Lohne – Erkrankung noch wenig erforscht
Das Knacken einer Möhre wird für Misophoniker zum Horrortrip. Andreas Seebeck versucht, Betroffenen mit einer Methode zu helfen, die an der Uni Amsterdam entwickelt wurde.
LOHNE/BIELEFELD – Es schmatzt und knackt – und ist kaum zu ertragen. Die speziellen Kaugeräusche, die man beim Essen mit Zunge, Kiefer und Mund verursacht, treiben manche Menschen in den Wahnsinn. Wem es so geht, der leidet eventuell unter Misophonie. Der Name setzt sich aus dem griechischen „Misos“ für Hass und „Phone“ für Geräusch zusammen: „Hass auf Geräusche“ also. Misophoniker können auch auf andere Auslöser anspringen, etwa das Hämmern des Kollegen auf Computertastaturen. Aber die Mehrheit erträgt keine Kaugeräusche. „Ich kann es nicht haben, wenn ich Mama essen höre. Darf ich das Radio anmachen?“ Mit diesem Satz schockte Jelle Homrighausen als Zwölfjähriger seine Eltern am Mittagstisch. Wenig später fing er an, alle Situationen zu meiden, bei denen gegessen wurde. „Am Tisch habe ich mich möglichst weit weg gesetzt von meiner Mutter. Ich bekam schon Wut, wenn ich nur ihre Kieferbewegungen sah. Dann habe ich auf meinen eigenen Teller gestarrt und bin so schnell wie möglich aufgestanden“, erzählt Homrighausen. Das Schlimmste für ihn sind Kaugummi kauende Menschen. Andreas Seebeck, sein Vater und psychotherapeutischer Heilpraktiker in Lohne (Kreis Vechta), erkannte in den Symptomen Anzeichen einer Phobie. „Ich nannte sie Kauphobie. Doch keine Therapie half“, erinnert sich Seebeck. Was folgte, war eine jahrelange Tournee von Therapeut zu Therapeut, von Psychologe zu Psychologe. Unterbrochen von Anti-Aggressionsseminaren, Hypnosesitzungen und Klopftherapien. „Nichts hat etwas gebracht. Ganz im Gegenteil. Gerade durch Konfrontationstherapien, mit denen Phobien behandelt werden, wurde alles noch viel schlimmer“, so Seebeck. Weil es in Deutschland weder Wissen noch Literatur über Misophonie gab, machte sich der Therapeut im Ausland schlau. Er fand Erklärungen in einem Misophonie-Buch des Amerikaners Thomas Dozier. „Ich war verblüfft, wie viele Leute daran leiden. Internationale Studien schätzen vorsichtig, dass jeder 10. bis 20. auf Geräusche anspringt, die er nicht aushalten kann“, sagt Seebeck. Das Phänomen unterschätzt hatte auch die Universität Bielefeld: Um herauszufinden, ob es sich um eine psychische Störung handelt oder um ein Begleitsymptom einer anderen Erkrankung, startete Wissenschaftlerin Hanna Kley 2018 eine Studie zu Misophonie. Statt 20 bis 30 gesuchter Probanden meldeten sich innerhalb kürzester Zeit 200 Menschen. Kley: „Wir haben im ersten Schritt Interviews mit Betroffenen geführt, die angaben, unter ihrer Geräuschempfindlichkeit, zum Beispiel in Bezug auf Kaugeräusche, so zu leiden, dass sie sich im Alltag eingeschränkt fühlen.“ Das könne der Fall sein, wenn Menschen vermeiden, Bus oder Bahn zu fahren – neben ihnen könnte ja jemand eine Brötchentüte auspacken. Auffällig ist für Kley, dass sich die Geräuschempfindlichkeit besonders oft auf nahestehende Angehörige konzentriert. „Das belastet zusätzlich, weil die Betroffenen ausgerechnet gegenüber geliebten Menschen in bestimmten Momenten Wut und Hass empfinden.“ Andreas Seebeck versucht inzwischen selbst, Misophonikern zu helfen. Er sammelt Erfahrungen mit einer Methode, die Wissenschaftler der Universität Amsterdam entwickelt haben, indem sie die auslösenden Geräusche verfremden, sie schneller oder langsamer, höher oder tiefer abspielen. Das könne leichte Verbesserungen bringen. Sein Sohn mag nichts mehr ausprobieren. Bei ihm ist über die Jahre noch eine Depression dazugekommen. „Seit ich Medikamente dagegen nehme, ist wenigstens die extreme Wut weg“, gesteht der heute 27-Jährige.
Hier lesen Sie das ungekürzte Interview, dass ich Januar 2018 mit der Bild Online geführt habe:
B.O.: Ist Misophonie eher eine körperliche oder psychische Krankheitsform?
Seebeck: Misophonie ist wohl neurologisch bedingt. Das sogenannte Reptiliengehirn interpretiert ein Geräusch oder auch einen visuellen Reiz als Angriff. Die Reaktion darauf, die sich nicht bewusst steuern lässt, ist starke Wut oder Ekel – das wird aversiver konditionierter Reflex genannt. Zu diesem Thema wird zur Zeit viel geforscht.
B.O.: Welche Ursachen hat Misophonie?
Seebeck: Hört jemand unter großem Stress ein sich wiederholendes Geräusch, so wird beides miteinander verknüpft. Eine typische Situation: Das Kind kommt gestresst von der Schule zum gemeinsamen Mittagessen. Dort fallen ihm plötzlich die Essgeräusche eines Familienmitgliedes auf. Es muss am Tisch sitzen bleiben, was zu noch größerem Stress führt. Schon ist ein ganz normales Essgeräusch zum Trigger geworden. Das kann prinzipiell jedem und auch in jedem Alter passieren, häufig beginnt die Misophonie aber im Alter von 8 bis 12 Jahren. Essgeräusche sind übrigens die häufigsten Trigger, zu Beginn sogar oft nur die Essgeräusche einer einzigen Person. Das ist das Interessante: Es muss kein traumatisches Erlebnis zugrunde liegen, die Misophonie entsteht in der Regel in einer ganz normalen Alltagssituation. Die Ursache liegt also nicht im Fehlverhalten einer anderen Person. Die Belastung ist für die Betroffenen und ihre Familien ungeheuer groß: Man steht sich nahe, man liebt sich, trotzdem werden Kinder von Eltern oder auch Eltern von Kindern getriggert.
B.O.: Sind eher Männer oder eher Frauen betroffen?
Seebeck: Frauen sind fast doppelt so häufig betroffen wie Männer: Etwa 20 % aller Frauen und 12 % aller Männer leiden unter misophonischen Triggern. Misophonie ist also eine weit verbreitete, aber trotzdem noch wenig bekannte Störung. Viele Menschen leiden darunter, ohne zu wissen, dass es für ihr Problem einen Namen gibt und glauben, dass sie allein damit stehen. Sie ziehen sich sozial zurück und werden oft als mürrisch, launenhaft oder reizbar abgestempelt.
B.O.: Gibt es Menschen, die eher davon betroffen sind als andere? (labilere Personen?)
Seebeck: Es gibt Menschen, die eher schlechter bei störenden Geräuschen weghören können als andere. Sie sind offener und ungeschützter ihren Sinneseindrücken gegenüber und daher anfälliger, Trigger zu entwickeln. Misophoniker sind überdurchschnittlich kreativ und intelligent. Die Firma 23andme, die private DNA-Analysen macht, konnte nach Auswertung von 80.000 Kundendaten auch einen genetischer Marker in Zusammenhang mit Misophonie bringen. Ein starker Risikofaktor ist aber auch Stress.
B.O.: Wie äußern sich die Beschwerden?
Seebeck: Geräusche (oder eine Bewegung, Trigger können auch visuell sein), die andere nicht einmal wahrnehmen, führen zu einem Fehlalarm im Gehirn: Du wirst angegriffen, wehr Dich! Die extreme Wut, die das hervorruft, kann man nicht unterdrücken oder ignorieren. Kleine Kinder rufen dann oft verzweifelt: „Mama, Du kaust so laut!“. Die übrige Familie ist ratlos, weil niemand sonst irgendwelche Kaugeräusche wahrgenommen hat. Für Misophoniker ist ein normaler Schul- oder Arbeitsalltag nur schwer zu bewältigen, denn um einen herum wird ständig gekaut, geschnieft und getrunken, geklickt und getippt. Diese Geräusche können auch sehr leise sein, das spielt dabei keine Rolle.
B.O.: Ist Misophonie heilbar? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
Seebeck: Die Reaktion auf misophonische Trigger lässt sich auflösen oder zumindest mindern. Viele Misophoniker erfahren schon eine Erleichterung, wenn ihnen bewusst wird, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind und sich über die Misophonie informieren können. Sie können dann der Entstehung von neuen Triggern vorbeugen und dafür sorgen, dass sich vorhandene nicht verschlimmern. Dafür ist es wichtig, den Triggern aus dem Weg zu gehen. Der Versuch, sie auszuhalten, sorgt oft dafür, dass neue Trigger hinzukommen oder bestehende sich ausweiten. An Therapiemöglichkeiten gibt es z.B. die Neural-Repatterning-Technik (NRT), die in der Verhaltenstherapie „Konfrontation unter Entspannung“ genannt wird. Ein großes Problem ist, dass die wenigsten Therapeuten bisher überhaupt von Misophonie gehört haben. Hier muss meist der Klient dem Therapeuten die Krankheit erklären, damit nicht die falsche Methode angewendet wird (z.B. Konfrontation unter Stress). Glücklicherweise steht die Forschung nicht still. Mit einer Methode, die wir TBT-Auditiv nennen und die u.a. auf Erkenntnissen der Misophonieforschung der Universität Amsterdam beruht, lassen sich Triggerreaktionen sehr schnell verringern. Bei dieser Methode, die von der Australierin Rehana Webster eigentlich für eine ganz andere Störung entwickelt wurde, spielt die Verfremdung der Triggergeräusche eine zentrale Rolle. Außerdem kann der gezielte Einsatz von Entspannungsmethoden wie der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson oder körperbasierten Techniken wie dem myofaszialen Muskelzittern (TRE) sehr hilfreich sein. Viele Misophoniker behelfen sich auch mit Kopfhörern, Ohrstöpseln und sogenannten Tinnitus-Noisern.
B.O.: Was genau ist die Neural-Repatterning-Technik (NRT)? Wie lange praktizieren Sie das schon?
Seebeck: Bei dieser Methode der Dekonditionierung wird dafür gesorgt, dass sich der Klient möglichst wohlfühlt. Seine Trigger werden ihm dann fast unhörbar vorgespielt, so dass dabei keine Wut-Reaktion hervorgerufen wird. NRT wurde von Thomas Dozier in den USA entwickelt. Er war einer der ersten, die zu dem Thema geforscht haben, weil sowohl seine Tochter als auch seine Enkelin davon betroffen waren. In seinem Buch „Misophonie verstehen und behandeln“ gibt er auch Hinweise zur Selbsthilfe. Ich selbst praktiziere NRT seit ungefähr drei Jahren, setze sie mittlerweile aber eher selten ein, weil die TBT-Auditiv-Methode schneller hilft.
B.O.: Wieso ist die Konfrontationstherapie nicht für Misophonie geeignet?
Seebeck: Weil Misophonie im Gehirn ganz anders abläuft als z. B. eine Phobie oder eine Zwangsstörung. Hält man Ängste aus, nimmt der Stresslevel irgendwann wieder ab, was dann einen Lerneffekt hat. Bei Wut oder Ekel funktioniert das nicht. An Wut kann man sich nicht gewöhnen – so wenig, wie man sich an Mobbing gewöhnen kann! Der erhöhte Stresslevel bei einer Konfrontation (wenn es nicht eine Konfrontation unter Entspannung ist) führt in der Regel zur Verschlimmerung der Misophonie. Leider wird Misophonikern aufgrund von Fehldiagnosen oft empfohlen, ihre Trigger auszuhalten. Ich habe von meinen Klienten schon alle möglichen Diagnosen gehört, die ihnen gestellt wurden: Trotzverhalten, affektive Störung, Hyperakusis, ADHS, bipolare Störung, paranoide Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung, Phobie, posttraumatische Belastungsstörung und noch viele mehr. Wie gesagt: Es ist ein großes Problem, dass Misophonie unter Therapeuten noch wenig bekannt ist, und man kann natürlich nur etwas diagnostizieren, was man auch kennt.
B.O.: Ist es vorstellbar, dass sich Betroffene von ihrem Partner trennen mussten, weil sie die Geräusche nicht mehr ertragen konnten?
Seebeck: Das kommt sehr oft vor. Ich hatte schon viele verzweifelte Paare in meiner Praxis. Wenn man nur lange genug mit einem Menschen zusammenlebt, können sich alle möglichen Trigger ausbilden. Wenn zum Beispiel die Aussprache eines bestimmten Lautes zum Trigger wird, können Paare nicht mehr miteinander reden, auch wenn sie sich noch so lieben! Ein neuer Partner ist meist nur eine kurzfristige Lösung. Nach einigen Monaten des Zusammenlebens stellen sich erneut Trigger ein. Viele Misophoniker leben sehr einsam: Stellen Sie sich vor, Sie müssten alle gesellschaftlichen Ereignisse meiden, bei denen gegessen wird – was bleibt dann noch?
Der Einsatz von guten Bewältigungsstrategien ist an sich schon eine Behandlungsmethode. Viele Patienten konnten mit Hintergrundrauschen ihre schmerzhafte Misophonie lindern. Auch das „Misophonie-Management-Programm“ hätte von daher hier als Behandlungsmethode aufgeführt werden können. Ich möchte hinzufügen, dass die hier aufgeführten Behandlungsmethoden auf meine persönlichen Erfahrungen sowie frei erhältlichen, bereits veröffentlichten Informationen basieren.
Entspannung des Reflexmuskels
Sie können die Reaktion auf einen Trigger vermindern, indem Sie Ihre Muskeln entspannen. Bewusste Entspannung vor einem Trigger veranlasst Ihr Reptiliengehirn dazu, langsam die Reflexintensität zu senken. Muskelentspannung ist also sowohl Bewältigungsstrategie als auch Behandlungsmethode. Der Beitrag unter Bewältigungsstrategien erklärte PME (Progressive Muskelentspannung nach Jakobson) detailliert. Um sie als Behandlungsmethode zu verwenden, müssen Sie lernen, Ihre Muskeln auf Kommando zu entspannen, ohne sie zuvor angespannt zu haben. Ein Trigger kommt selten allein. Die Person neben Ihnen schnieft, kaut oder tippt auf einer Tastatur herum. Trigger dieser Art sind nahezu konstant. Um Ihr Gehirn neu zu vernetzen, ist es notwendig zu lernen, den Muskel Ihres ersten misophonischen Reflexes zu entspannen, bevor Sie dem Trigger ausgesetzt werden. Sie können natürlich auch andere Muskeln entspannen, doch ihr Reptiliengehirn wird nur geschult, wenn Sie im Vorhinein genau den Muskel entspannen, der vom Trigger attackiert wird.
Wenn Sie lernen, den Reflexmuskel zu entspannen, wird er sich weniger zusammenziehen und entspannt sich fast sofort wieder. Ihr Reptiliengehirn wird so während der kritischen „Lernzeit“, d.h. in den ersten zwei Sekunden nach einem Trigger, einen viel entspannteren Muskel vorfinden und so beim nächsten Mal nicht so extrem reagieren. Allmählich verschwindet der körperliche Reflex komplett. Muskelentspannung vor und während eines Triggers ist keine unwichtige Kleinigkeit. Sie ist vielmehr eine äußerst wirksame Schulung für das Reptiliengehirn. Betrachten Sie es nicht als Progressive Muskelentspannung, sondern als Muskelentspannungsübung, die tägliches Engagement erfordert. Sie können ihr Reptiliengehirn durch die Entspannung Ihres Reflexmuskels völlig umstrukturieren. Die Neural-Repatterning-Technique (NRT), die wir als nächstes besprechen werden, verwendet einen Trigger mit geringer Intensität, um Ihnen die Entspannung zu erleichtern. Ein Patient hörte im ersten Misophonie-Seminar von den Entspannungstechniken. Nur 8 Monate später war er beim 2013-Seminar als Mitglied des Patientenausschusses anwesend und berichtete, wie es ihm ergangen war. Jahrelang hatte er sich nach seinem Trigger entspannt, um so seine Wut aufzulösen. Jetzt hatte er entdeckt, dass er sich bereits vor dem Trigger entspannen konnte. So konnte er seine Misophonie praktisch eliminieren – und das nur durch Muskelentspannung. Sein Initialreflex bestand in einem Hochziehen seiner Schultern. Als er lernte, seine Schultern vor einem Trigger zu entspannen, reduzierte er damit den Schweregrad seines Reflexes. Sein Reptiliengehirn wurde so umstrukturiert, dass beim nächsten Trigger sein Reflex etwas geringer ausfiel. Mein Artikel „Gegenkonditionierung: Den ersten misophonischen Reflex mit der Neural-Repatterning-Technique behandeln“, (englischsprachig) enthält einen ähnlichen Bericht. Eine Patientin begann erst mit der PME, ergänzte ihre Übungen mit NRT zusammen mit der Trigger-Tamer-App und lernte so, sich während ganz leisen Triggern zu entspannen. Sie konnte in der NRT-Behandlung zwei Trigger völlig eliminieren, setzte das Erlernte dann in Alltagssituationen um und reduzierte so weiter die Anzahl ihrer Trigger. PME klingt vielleicht banal, aber richtig erlernt und angewendet kann diese Fertigkeit Ihnen helfen, Ihre Misophonie zu lindern oder gar zu eliminieren.
Neural-Repatterning-Technique (NRT)
Wie wir wissen, ist Misophonie ein zweiteiliger Prozess. Sie hören den Trigger, dieser löst einen körperlichen Reflex aus, was wiederum die extremen Emotionen oder die Kampf-oder-Flucht-Reaktion zur Folge hat (siehe untere Abbildung).
Wenn Sie also den körperlichen Reflex verhindern können, folgt auch keine emotionale Reaktion. Dies ist das Ziel der Neural-Repatterning-Technique. Durch das Reduzieren oder sogar Eliminieren des körperlichen Reflexes wird die Verbindung zwischen dem Trigger und Ihren misophonischen Emotionen (siehe untere Abbildung) unterbrochen.
Es geht also darum, eine Gegenkonditionierung Ihres misophonischen Reflexes zu erreichen. Die klassische Methode, einfach die negativen Emotionen durch positive Gedanken zu ersetzen, ist für Misophoniker schwierig bis unmöglich, weil in den zwei entscheidenden Sekunden nach dem Trigger die misophonischen Emotionen viel zu stark sind. Aufgrund dieser Problematik begann ich, den Trigger für die Neural-Repatterning-Technique, die ich 2013 entwickelte, zu reduzieren. Zusammen mit dem Trigger wird nämlich auch die Intensität des körperlichen Reflexes abgeschwächt. Es verhält sich damit ähnlich wie mit einer Allergiebehandlung. Wenn jemand eine Erdnussallergie hat, kann schon eine einzige Erdnuss diese Person umbringen. Trotzdem besteht die Behandlungsmethode darin, eine winzige Menge des tödlichen Serums zu injizieren. Wenn die Dosis nur verschwindend niedrig ist, reagiert der Körper mit einer genauso geringen Reaktion darauf. Wenn man das eine Zeitlang macht, gewöhnt sich der Körper schließlich an die Erdnuss und stellt seine Reaktionen ganz ein. NRT funktioniert auf die gleiche Weise. Sie erhalten sozusagen regelmäßig eine kleine Dosis Ihres Triggers, bis Ihr Reptiliengehirn schließlich nicht mehr darauf reagiert. Der Patient befindet sich dazu während der Behandlung in einem positiven Umfeld – er hört z.B. seine Lieblingsmusik oder redet mit jemandem über schöne Erinnerungen, während seine Trigger fast unhörbar abgespielt werden. So entsteht ein positives Erlebnis, weil die Trigger so schwach sind, dass der misophonische Reflex keine negativen Gefühle erzeugt. Die Behandlung, die auch als Trigger-Tamer-Behandlung bezeichnet wird, war so erfolgreich, dass ich daraus eine App, den „Misophonia Trigger Tamer“, entwickelte. Es ist ratsam, mit Aufnahmen zu arbeiten, aber es können natürlich auch Trigger live verwendet werden. Die Bewertungsskala des Reflexes reicht von null (keine Reaktion) bis fünf (maximale Reaktion). Die NRT-Behandlung eliminiert den körperlichen Reflex nicht unbedingt komplett, kann ihn aber um einiges reduzieren, so dass er mit der Zeit allmählich abstirbt oder zumindest so schwach bleibt, dass die emotionale Reaktion auf den Trigger stark reduziert wird. Das optimale Ergebnis der Neural-Repatterning-Technique – Behandlung ist eine Eins oder allerhöchstens eine Zwei. Die Person kann bei einer Eins noch positiv, gelassen und glücklich sein. Wir verbinden dann den Trigger mit etwas Schönem, beispielsweise Massage, entspannender oder fröhlicher Musik, je nachdem, was der Patient vorzieht. Einem meiner Patienten gefiel Rockmusik. Obwohl das nicht mein Geschmack ist, funktionierte es für ihn und war ein positiver Stimulus. Eine andere Patientin redete während ihrer Behandlung über ihre Erfolgserlebnisse. Eine Frau verwendete Fotos von ihren Neffen und eine andere von ihrem Hund, die sie einfach fröhlich stimmten. Egal was bei Ihnen die Laune hebt, die Hauptsache ist, dass Sie sich ruhig und glücklich fühlen, um so dem störenden Effekt des Triggers entgegenzuwirken. Konzentrieren Sie sich auf Ihren positiven Stimulus, entspannen Sie sich und lassen Sie Ihr Reptiliengehirn die nötigen Änderungen mit der Hilfe der Trigger-Tamer-App vornehmen.
Marthas Geschichte
Martha, eine 40-jährige Berufstätige, litt bereits ihr ganzes Leben unter ihrer Misophonie. Dank Atemübungen, Entspannungstechniken, geräuschunterdrückenden Kopfhörern und Ohrstöpseln schaffte sie es schließlich, ihre Reflexe zu reduzieren. Es gab zum Schluss nur noch einen Trigger, der sie hin und wieder aus der Fassung brachte. Während sie sich im Rahmen der Vorbereitung auf die NRT-Behandlung eine Aufnahme ihres Triggers anhörte, bemerkte sie ein Muskelzucken hinter ihren Ohren. Daraufhin konnte mit einer zielgerichteten NRT-Behandlung ihr Reflex komplett eliminiert werden. Als er schließlich verschwunden war, löste der Trigger in Alltagssituationen keine negativen Emotionen mehr aus.
Virginias Geschichte
Virginias Misophonie wurde von einem Familienmitglied ausgelöst, das ständig vor sich hin sang. Sie berichtet: „Ich muss gestehen, ich war zu Anfang recht skeptisch. Als ich jünger war, dachte ich immer, ich wäre die Einzige mit diesem Leiden. Doch nach ungefähr drei Wochen der Behandlung bemerkte ich eine Verbesserung. Langsam wurde der Trigger weniger belastend und schließlich verschwand er komplett. Als ich dann den Trigger in Alltagssituationen hörte, spürte ich keine Wut mehr. Es war wie ein Wunder.“ Die Neural-Repatterning-Technique ist keine unangenehme Behandlung, sondern kann viel Spaß machen. Virginia beschreibt ihre NRT-Behandlung mit der Trigger-Tamer-App wie folgt: „Ich bin jetzt schon fast 75 Jahre alt und habe mein ganzes Leben bestimmte Geräusche gemieden. Als ich mit der Behandlung begann, hatte ich meine Bedenken. Doch nachdem ich die ganze Sache verstanden hatte, freute ich mich auf meine Behandlung und es war erstaunlich, diese Geräusche plötzlich aushalten zu können. Es hat mein Leben verändert.“
Eine der ersten Personen, die die App kaufte, rief mich an, damit ich ihr bei den Einstellungen helfen konnte, um mit der Behandlung zu beginnen. Kurze Zeit später schrieb mir der Mann: „Ich habe gute Neuigkeiten. Seit zehn Tagen verwende ich die App täglich mindestens eine Stunde lang. Wenn ich mich gut fühle, verwende ich sie sogar bis zu drei Stunden während der Arbeit. Die Lautstärke drehe ich ganz allmählich hoch und steigere die Häufigkeit und Länge des Triggergeräusches (Schniefen). Mitten in einer Unterhaltung mit meinem Mitbewohner bemerkte ich heute, dass er schniefte und dass ich keinerlei Reaktion dabei fühlte. Ich konzentrierte mich dann sogar auf sein Schniefen und erwartete negative Gefühle. Diese blieben jedoch aus. Außerdem habe ich eine Verbesserung meiner Empfindlichkeit gegen Kaugeräusche festgestellt. Generell spüre ich viel weniger Stress, wenn ich mit dem Trigger rechne. Natürlich gefällt mir das Geräusch immer noch nicht, aber ich komme jetzt viel besser damit klar. Schon allein die Stressreduzierung ist klasse.“ Die NRT-Behandlung heilt Misophonie nicht, kann jedoch den Reflex um einiges reduzieren. Das Ziel dieser Behandlung ist, ihren misophonischen Reflex als eine kleine, stressfreie Reaktion wahrzunehmen, so wie ein Zwinkern. Diese ist nie rein emotional, sondern schließt eine körperliche Reaktion mit ein, die aber sofort wieder verschwindet. Für einen effektiven Lernprozess ist der richtige Trigger-Intervall wichtig. Dieser sollte so sein, dass der Trigger oft genug zu hören ist, aber keinen Stress auslöst. Die meisten Patienten haben den größten Erfolg mit Trigger-Intervallen zwischen 15 Sekunden und zwei Minuten. Mit der Abnahme Ihrer Reflexreaktion intensivieren Sie den Trigger, damit Ihre körperliche Reaktion immer auf einer Skala zwischen null und fünf bleibt. In manchen Fällen wurde eine Verbesserung nach 100-300 Triggern mit der Trigger-Tamer-App berichtet, es gibt aber auch Fälle, in denen sich der Reflex selbst nach 1000 Triggern nicht reduzierte. Wenn Sie den Reflex mittels einer Triggeraufnahme auflösen konnten, wechseln Sie zu einer ähnlichen Aufnahme. Wenn Sie bis zu vier Aufnahmen auf der Trigger-Tamer-App aushalten können, sind Sie für Trigger in Alltagssituationen bereit. Sie werden immer noch einen Reflex spüren, doch er wird sehr viel schwächer ausfallen. Ich schlage vor, dass Sie diese Behandlung 30 Minuten täglich, vier bis sechs Tage die Woche durchführen. Genießen Sie Ihre Behandlung. Lächeln Sie, hören Sie Musik und entspannen Sie sich. Während Sie sich wohlfühlen, setzen Sie sich kleinen Triggern aus. Mit der Trigger-Tamer-App kontrollieren Sie Ihre Trigger. Sie sind der Boss. Achten Sie darauf, dass Sie tatsächlich einen körperlichen Reflex spüren. Wenn Sie sich einfach genervt oder vom Geräusch angeekelt fühlen, aber keine körperliche Reaktion haben, wird die NRT-Behandlung keinen Effekt haben. Achten Sie darauf, ob sich Ihr Reptiliengehirn wirklich umstrukturiert. Wenn Sie nach ca. sechs Behandlungen weder das Volumen noch die Häufigkeit erhöhen müssen, um Ihre körperliche Reaktion auf Stufe „eins“ beizubehalten, dann hat sich in Ihrem Reptiliengehirn noch nichts verändert. Das heißt, Sie müssen etwas an Ihrer Behandlung ändern.
Die Sequent-Repatterning-Hypnotherapie (SRT)
Bevor Chris Pearson seine „Sequent-Repatterning-Hypnotherapie für Misophonie“ entwickelte, zeigte sich die Hypnotherapie bei Misophonie als weitgehend uneffektiv oder bot nur kurzzeitige Linderung. Misophonie wurde von Hypnotherapeuten generell als Phobie behandelt. Aufgrund des physischen Reflexes, der mit der Misophonie zusammenhängt, ist es für Misophoniker unmöglich, nicht auf den Triggerstimulus zu reagieren oder ihn ganz zu ignorieren. Man kann zwar Geräusche ignorieren, jedoch ist es unmöglich, den physischen Reflex auszublenden. Die Sequent-Repatterning-Hypnotherapie ermöglicht es dem Misophoniker, die körperliche Auswirkung des misophonischen Reflexes zu spüren, ohne eine emotionale Reaktion darauf zu haben. Der Kontext einer physischen Empfindung kann eine große Auswirkung auf die darauf folgende emotionale Reaktion haben. Wenn eine Krankenschwester Ihnen eine Spritze verabreicht, bleiben Sie vermutlich vollkommen ruhig. Doch wenn irgendeine Person Sie mit einer Nadel sticht, reagieren Sie garantiert stark emotional. Während der Therapie wird über mehrere Sitzungen hinweg eine entspannende Reaktion aufgebaut. Der Patient lernt, auf die körperliche Empfindung mit diesem beruhigenden Gefühl zu reagieren, statt wie normalerweise mit Ärger. Wie unten gezeigt löst die Sequent-Repatterning-Hypnotherapie die emotionale Reaktion vom körperlichen Reflex und ersetzt sie durch eine positive emotionale Reaktion.
Die Sequent-Repatterning-Hypnotherapie besteht aus fünf Behandlungsschritten, die normalerweise bis zu acht Hypnotherapiesitzungen erfordern. In den ersten drei Schritten wird das emotionale Gleichgewicht des Patienten gestärkt und ein Beruhigungsreflex entwickelt. Schritt vier unterbricht die Verbindung zwischen der emotionalen misophonischen Reaktion und dem körperlichen Reflex und ersetzt diesen durch den Beruhigungsreflex. Da die meisten Misophoniker normalerweise auf alle ihre Trigger mit dem gleichen Reflex reagieren, reduziert dieser Schritt die emotionale Reaktion auf alle Trigger gleichzeitig. Im fünften Schritt wird dann jeder Trigger einzeln angegangen, um die Verbindung zwischen dem körperlichen Reflex und dem Triggerstimulus zu unterbrechen. Im Jahr 2013 behandelte Chris Pearson 15 Patienten mit der Sequent-Repatterning-Hypnotherapie. Diese bewerteten ihren Misophonie-Schweregrad in „Stresseinheiten“ (1: vernachlässigbar bis 10: schwerwiegend). Bei neun dieser Patienten verbesserte sich ihre Misophonie drastisch. Sie bewerteten sie nach der Behandlung mit Werten zwischen eins und drei. Vier Patienten zeigten eine mäßige Verbesserung um etwa vier bis sechs Stresseinheiten. Eine Person brach ihre Behandlung ab und eine weitere sprach auf die Behandlung nicht an. Im Mai 2015 wurde eine Nachuntersuchung mit elf der dreizehn Patienten durchgeführt, die mit der Behandlung Erfolg hatten. Sechs davon hatte der Erfolg angehalten, bei vieren hatte sich ihr Zustand ein wenig verschlechtert und ein Patient mit mäßiger Verbesserung hatte einen Rückfall erlitten. Die Patienten wurden angewiesen, täglich eine einminütige Beruhigungsübung durchzuführen. Bei fünf der sechs Patienten, die mit dieser Übung konsequent waren, blieb der Erfolg konstant. Chris Pearson und das Misophonie-Behandlungsinstitut sind dabei, ein Schulungsprogramm für Hypnotherapeuten in die Wege zu leiten, damit mehr Betroffene von dieser Methode profitieren können. Bislang wurden vier Hypnotherapeuten geschult: drei englischsprachige, ein holländisch- und ein deutschsprachiger. Die Sequent-Repatterning-Hypnotherapie kann über Video-Chat durchgeführt werden, also benötigen Sie nur eine gute Internetverbindung. Wir sind noch in der Anfangsphase dieser Methode, aber die Resultate unserer bisherigen Patienten machen uns Hoffnung, dass sie vielen Misophonikern helfen kann. Bislang haben wir keine Beschränkung des Anwendungsbereichs entdeckt und konnten sogar Kinder erfolgreich behandeln. Eine erfolgreiche Behandlung ist schon mit den ersten vier Schritten der Therapie möglich, in denen die miso-emotionale Reaktion vom körperlichen Reflex gelöst wird. Der letzte Schritt, der den körperlichen Reflex komplett beseitigt, schlägt nur bei sehr wenigen Patienten an. Aber den misophonischen Schweregrad von mäßig auf gering oder von schwerwiegend auf mäßig zu senken, ist bereits ein großer Erfolg. Die Sequent-Repatterning-Hypnotherapie mit anderen Behandlungen wie der NRT oder der Muskelentspannung zu verbinden, kann sicherlich zu noch weiteren Verbesserungen führen. In einigen Fällen konnten Patienten mit SRT zwar ihre emotionalen Reaktionen zum Trigger eliminieren, doch der körperliche Reflex störte sie weiterhin. Daraufhin wurde NRT eingesetzt, um diesen zu reduzieren. In einem Fall gelang sogar die komplette Beseitigung des Reflexes. Wenn NRT als Folgebehandlung nach SRT eingesetzt wird, ist diese Therapie weit schneller und allgemein effektiver als in den Fällen, in denen sie als erste Behandlung angewendet wurde. Der Grund dafür ist, dass Trigger weit aggressiver angegangen werden können, wenn die emotionale Komponente nicht mehr existiert.
Nachtrag: Die deutsche Therapeutin, von der hier die Rede ist, praktiziert leider nicht mehr. Ich informiere sofort über neue Therapeuten, wenn ich von ihnen höre. Hier noch die Antwort von Chris auf meine Anfrage, vielleicht fühlt sich ja der eine oder andere Hypnotherapeut angesprochen: Andreas, Thanks for getting in touch. Our German-speaking therapist was, in fact, a resident of The Netherlands and she has sadly been very unwell. As far as I am aware, she is now not practising leaving us again with only English-speaking practitioners. I am very keen to increase the availability of sequent repatterning and will welcome an opportunity to train individuals or groups either here in UK or in Germany (Or elsewhere, of course.)
Verhaltenstherapie
Kognitive Verhaltenstherapie identifiziert problematische Muster in den Gedanken, Gefühlen und dem Verhalten einer Person. Gemeinsam versuchen Patient und Therapeut, diese dann durch ein angemesseneres Verhaltensmuster zu ersetzen. Außerdem gibt es spezielle verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die sich besonders auf die Reaktion des Patienten auf bestimmte emotionale Situationen konzentrieren. In einer Fallstudie wird die Behandlung einer jungen Misophonikerin mit kognitiver Verhaltenstherapie beschrieben. Ihre zwischenmenschlichen Kompetenzen verbesserten sich nachhaltig. Auf ihre Triggerstimuli aber hatte die Behandlung keinen Einfluss. Die Therapie umfasste die folgenden Komponenten:
eine kognitive Komponente gegen negative Gedanken,
eine Verhaltenskomponente, um unangemessene Verhaltensmuster und ängstlich-vermeidende Bewältigungsstrategien durch praktische und hilfreiche zu ersetzen,
eine physiologische Komponente, um die autonome Reaktionsfähigkeit neu einzustellen.
Es konnte nur schwerlich bewertet werden, ob die Patientin die letzte Komponente, eine tägliche, 30-minütige Übung, tatsächlich durchgeführt hatte. Die Behandlung beseitigte anscheinend die konditionierte emotionale Reaktion auf die Trigger, hatte aber auf den körperlichen Reflex keinen Einfluss. Die Patientin empfand die Geräusche also weiterhin als störend, da sie einen Reflex spürte.
Eine weitere Fallstudie beschreibt die verhaltenstherapeutische Behandlung zweier Teenager im Alter von 11 und 17 Jahren. Sie umfasste Psychoedukation – die Aufklärung über die Störung, in diesem Fall Misophonie -, Expositionen und kognitive Umstrukturierungen, um die Patienten darin zu unterstützen, ihre Trigger zu tolerieren, ohne aggressiv zu werden, oder zu versuchen, sie zu vermeiden. In der Exposition wurden die Patienten immer stärkeren Triggern ausgesetzt und es wurde ihnen beigebracht, ihre Reaktionen zu unterdrücken. Bei dem 11-Jährigen wurde ein Belohnungssystem angewendet, wenn er es schaffte, sich den Triggern auszusetzen. Der 17-Jährige wurde nicht belohnt. Mit kognitiver Umstrukturierung wurden ihre Ansichten bezüglich der Geräusche bearbeitet, z.B.: „Meine Familie macht diese Geräusche mit Absicht, nur um mich zu ärgern“. Nach der Behandlung konnten beide Jugendliche mit ihren Familien zusammen essen, ohne dass besondere Maßnahmen ergriffen werden mussten. Gemäß ihren Selbstbewertungs-Fragebögen zeigten beide Jugendliche nach der Behandlung eine Senkung ihres Misophonie-Schweregrades, wobei diese bei dem 11-Jährigen minimal ausfiel. Die Fallstudie beinhaltet keine Nachuntersuchungen, daher wissen wir nichts über den weiteren Verlauf. Ich spreche mich deutlich gegen diese Art von Expositions- bzw. Konfrontationsübungen aus. Bei diesen wird der eigentliche körperliche Reflex nicht behandelt. Ich befürchte, dass der 11-Jährige die nach außen hin sichtbaren Reaktionen nur unterdrückte, um die Belohnung zu bekommen, innerlich aber weiterhin unter starkem Stress stand. Auf diese Weise können sich neue Trigger und weit stärkere misophonische Reflexe entwickeln. In vielen Fällen verschlimmerte sich die Misophonie bei dieser Art von Behandlung. Kognitive Verhaltenstherapie kann Ihnen dabei helfen, mit Ihrer Misophonie besser umzugehen, indem Sie Ihre Einstellung gegenüber Ihren Triggern ändern. Viele Patienten bestätigen die positiven Ergebnisse dieser Behandlung. Sie wird auch vom Misophonie-Management-Programm als Behandlungsmethode empfohlen, durch die die Misophonie selbst zwar nicht geheilt oder gelindert werden kann, mit deren Hilfe Patienten aber erlernen können, sie als einen Teil von sich zu akzeptieren und mit ihr zu leben.
Konfrontationstherapie bei Misophonie: Wann sie hilft und wann sie schadet
Fakt ist, dass Konfrontationstherapie bei Misophonie leider nicht so einfach funktioniert. Wenn unter Misophonie leidende Menschen akustischen Auslösern schonungslos ausgesetzt werden, weil man hofft, dass sie sich dadurch irgendwann daran gewöhnen werden, wird das schief gehen. Es ist wohl einer der schlechtesten Ansätze, wenn der Therapeut sagt: „Sie setzen sich jetzt hier hin, während ich eine Tüte Chips esse, und wenn wir das nur oft genug wiederholen, wird das Ihrer Misophonie bestimmt helfen.“ Es gibt nur sehr wenige Berichte von Erfolgen durch diese Methode – und sie kann auch nur funktionieren, wenn die Betroffenen diese Art der Therapie selbst wünschen und sich entsprechend einbringen. Bei Kindern ist diese Methode unbedingt zu vermeiden. Bei Konfrontationstherapien werden die Betroffenen dem Trigger für einen bestimmten Zeitraum ausgesetzt – zunächst nur kurz, später dann immer länger. Das Problem dabei ist, dass dadurch der ursprüngliche physikalische Reflex und die darauffolgende emotionale Reaktion verstärkt werden können. Während so eines Therapieprozesses können sich auch neue Trigger entwickeln. Es gibt unzählige Berichte von Personen in Misophonie-Hilfegruppen, die berichten, dass ihre Misophonie sich durch Konfrontation deutlich verschlimmert hat. Sollte Ihnen also jemand vorschlagen, dass Sie sich ganz einfach Ihren Triggern aussetzen sollen, bis Sie sich daran gewöhnt haben (besonders Therapeuten, die sich nicht auf Misophonie spezialisiert haben), dann würde ich Ihnen dringend einen Therapie- oder sogar Therapeutenwechsel empfehlen.
Es ist aber nicht so, dass jegliche Form der Konfrontation mit Triggern vermieden werden muss. Es gibt korrekte und fatale Formen der Konfrontation. Die gestaffelte und ansteigende Konfrontation mit dem Trigger hat in mehreren Studien und Versuchen, die in Fachzeitschriften publiziert wurden effektive Erfolge und Besserung gezeigt. Es ist wichtig, dass man dabei ruhig und gelassen bleibt und während der andauernden Therapie sogar immer stressfreier wird. Konfrontation unter Entspannung heißt das in der Verhaltenstherapie. Trotzdem sollte man sich heftigen akustischen Reizen, mit der Absicht seine Misophonie zu reduzieren, nicht selbst aussetzen. Wahrscheinlich wird man Sie während der Therapie bitten, dass Sie sich akustische Reize anhören, jedoch wird man Ihnen vorher auch Methoden zur Selbstberuhigung beibringen. Es ist vollkommen in Ordnung, dies mit ein paar kleine Auslösern zu üben und dadurch die Fähigkeit, sich gezielt zu entspannen, zu stärken. Dadurch wird die emotionale Reaktion auf den Trigger stetig vermindert. Zu empfehlen ist die „Neural Repatterning“-Technik, auch „Trigger Tamer“- Technik genannt. Diese Therapiemethode verändert und reduziert die Trigger so, dass sie nur noch einen kleinen Misophonie-auslösenden Reiz abgeben. Die Konfrontation findet also in einem sehr kontrollierten Maße statt und der minimale Reiz erlaubt es dem Gehirn, sich umzustrukturieren. Mit Muskelentspannungsübungen wird dem Betroffenen geholfen, alle Muskeln im Körper während der Triggersituation zu entspannen und somit die Reaktion auf den Auslöser zu minimieren. Es ist falsch, dass ausnahmslos alle Behandlungsmethoden, die akustische Reize und Auslöser involvieren, schädlich sind. Aber wie gesagt: Es ist wichtig, dass der Therapeut die Besonderheiten der Misophonie in Bezug auf Konfrontation kennt.
Studie über die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Maßnahmen bei Misophonie
Eine neue Studie zum Thema Misophonie zeigt, dass bestimmte Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie bei Misophonie durchaus wirksam sind. Während man in der Universitätsklinik Amsterdam längst weiß, dass Expositionsübungen nicht dazugehören, werden hierzulande Misophonie-Patienten leider immer noch unnötigerweise mit Trigger-Konfrontationen gequält. Thomas Dozier, Autor von „Misophonie verstehen und überwinden“, hat das Wesentliche der Studie kurz zusammengefasst und ich habe diese Zusammenfassung nun übersetzen lassen:
Die Fachzeitschrift zur Therapie Affektiver Störungen (Journal of Affective Disorders) veröffentlichte im April 2017 den Forschungsbericht einer Misophonie-Behandlungsstudie, die in der psychiatrischen Abteilung der Universitätsklink in Amsterdam durchgeführt wurde. Der Hauptautor Arjan Schröder ist schon als erster Autor der Forschungsstudie „Misophonie: Diagnostische Kriterien einer neuen psychiatrischen Störung“ aus dem Jahr 2013 bekannt geworden.
90 Teilnehmer (65 Frauen und 25 Männer) nahmen an der Behandlungsstudie teil. Patienten mit Suchterkrankungen, bipolaren Störungen, Autismusspektrumsstörungen oder psychotischen Störungen wurden nicht in der Studie mit eingeschlossen. Die Patienten gehörten verschiedenen Altersgruppen an und litten in unterschiedlichen Schweregraden an Misophonie. Der durchschnittliche Schweregrad war „mäßig“ (A-MISO-S-Wert = 13,6).
Die Behandlung umfasste
Gruppensitzungen, wöchentlich oder zweiwöchentlich (8 Sitzungen für Kognitive Verhaltenstherapie und Entspannungsübungen), mit jeweils 6 bis 9 Teilnehmern
Konzentrationsübungen zur Verbesserung der Aufmerksamkeitsverlagerung
Gegenkonditionierung (Trigger hören und zugleich ein angenehmes Erlebnis verspüren)
Triggermanipulation – Bearbeitung, Verringerung und Veränderung der Trigger auf dem eigenen Computer
Entspannungsübungen
Ergebnis: 58% berichteten von einer deutlichen Verbesserung. Davon kamen fast alle (48%) auf eine mindestens 30% niedrigere A-MISO-S-Wertung. Bei 9% (8 Patienten) verschwanden die Symptome sogar komplett.
Bemerkungen einiger Patienten bezüglich der Behandlung:
Die Konzentrationsübungen halfen dabei, die Aufmerksamkeit vom Trigger auf andere Sinnesreize zu verlagern (z.B. eine Unterhaltung).
Die Gegenkonditionierung half einigen Patienten, die Trigger mit positiven Gefühlen zu verbinden.
Die Triggermanipulationsübung gab den Patienten das Gefühl, dass die Trigger zu einem gewissen Grad kontrolliert werden können. Sie fühlten sich weniger überwältigt, wenn sie den echten Triggern ausgesetzt waren.
Die Patienten fühlten sich dank der Entspannungsübungen weniger irritiert und eher dazu im Stande, ihre Trigger zu tolerieren.
Kurse nach der Methode der Universitätsklinik Amsterdam und Thomas Dozier
Ebenso wie die Experten der Universitätsklinik Amsterdam vertritt auch Thomas Dozier die Auffassung, dass es sich bei Misophonie um eine Störung durch Konditionierung und nicht durch Traumatisierung handelt. Die Gegenkonditionierung beschreibt er in seinem Buch „Misophonie verstehen und überwinden“. Er entdeckte auch, dass jede misophonische Reaktion in Zusammenhang mit einem Muskelreflex steht. Das Einbeziehen dieses Reflexes in die Therapie erhöht die Erfolgschancen erheblich.
Bei Interesse an einem Kurs nach dem Schema der Studie und nach Thomas Dozier melden Sie sich bei mir unter Kontakt.
Neurofeedback
Beim Neurofeedback wird dem Patienten durch Auswertungen der eigenen Hirnstrommuster sein Bewusstseinszustand (zum Beispiel wach, schlafend, aufmerksam, entspannt, gestresst) rückgemeldet. Dadurch wird es ihm ermöglicht, eine bessere Selbstregulationsfähigkeit zu entwickln. Es gibt keine eindeutigen Aussagen oder veröffentlichte Fallstudien bezüglich der Wirksamkeit von Neurofeedback bei Misophonie. Bei manchen Patienten ist die Behandlung sehr erfolgreich, bei vielen zeigt sie jedoch keine Wirkung. Dr. Randall Lyle aus Cedar Rapids, Iowa, ist ein hochqualifizierter Therapeut mit praktischer Erfahrung in Neurofeedback und hat misophonische Symptome mit dieser Behandlungsmethode reduzieren können. Dies ist jedoch ein langwieriger Prozess, der zwischen 40 und 100 Sitzungen erfordern kann. Gerade wegen dieser langen Dauer hat Neurofeedback womöglich eine eher indirekte Auswirkung auf Misophonie. Gemäß Dr. Lyle kann eine solche Therapie ergänzend zur Behandlung von Depressionen, Angststörungen, Stress, chronischer Müdigkeit, Migräne, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), und Zwangserkrankungen eingesetzt werden. Außerdem wird die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden gesteigert. Da Misophonie mehrere Reaktionsschritte umfasst und Neurofeedback die Reaktion einer Person auf aversive Auslöser abschwächt, ist der primäre Effekt eine schwächere emotionale Reaktion. Der körperliche Reflex, der normalerweise durch die Wiederholung des Triggers und der allgemeinen misophonischen Reaktion gestärkt wird, kann dann möglicherweise ebenfalls schwächer ausfallen. Das Entscheidende dabei ist, dass Neurofeedback Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden verbessern kann. Wenn Sie auf diese Weise Ihre allgemeinen Gesundheitsprobleme beseitigen, reduzieren Sie automatisch Ihre Misophonie-Symptome. So ähnlich, wie es auch bei Connor war, dem bereits erwähnten Soldaten, der nach seinem Einsatz in Afghanistan an PTBS und Misophonie litt. Er verbesserte seinen Allgemeinzustand mit Progressiver Muskelentspannung und der „Keine Gefahr, aber trotzdem danke“-Methode und konnte so seine Misophonie praktisch eliminieren. Dank der Muskelentspannung konnte er nachts besser schlafen und seine PTBS-Symptome reduzieren. Sein allgemeines Wohlbefinden verbesserte wahrscheinlich sofort seine Misophonie. Da er seine emotionalen Reaktionen auf lange Sicht senken konnte, wurde sein konditionierter misophonischer Reflex immer schwächer und verschwand schließlich vollständig.
Medikamente gegen Angststörungen und Depressionen (Anxiolytika und Antidepressiva)
In einer Studie verglichen wir die Auswirkungen verschiedener Behandlungen auf Misophonie. Da einige Teilnehmer mehrere Behandlungsmethoden durchgeführt hatten und nur die letztendliche Gesamtwirkung beschrieben, war es schwer, die Auswirkungen der einzelnen Methoden zu bestimmen. Eine Regressionsanalyse zeigte, dass Medikamente für Angststörungen oder Depressionen einen messbaren positiven Effekt auf den Misophonie-Schweregrad hatten. Ich rate aber von der Einnahme dieser Medikamente als allgemeine Misophonie-Behandlung ab. Wenn Sie jedoch an Depressionen oder Angstzuständen leiden, die nicht mit Ihrer Misophonie zusammenhängen, kann die passende medikamentöse Behandlung dieser Leiden auch Ihre Misophonie verbessern. Die Medikamente scheinen nur eine indirekte, aber dennoch positive Auswirkung auf Misophonie zu haben.
Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT)
Schon Dr. Pawel und Dr. Margaret Jastreboff verwendeten TRT als eine Behandlungsmethode für Misophonie. Viele Audiologen haben Erfahrung damit, wobei einige sie nur bei Tinnitus und Hyperakusis einsetzen. TRT umfasst den Einsatz von Hörgeräten, die angenehme Geräusche abspielen können, sowie begleitende Beratung. Der Unterschied zum Misophonie-Management-Programm ist, dass letztere Methode nicht mit angenehmen Geräuschen arbeitet. In einer Fachzeitschrift wurde die Behandlung von 184 Misophonikern dokumentiert, 152 davon zeigten eine deutliche Verbesserung. Sie wurden vor und nach der Behandlung gefragt: „Als wie problematisch empfinden Sie Ihre Misophonie?“ und berichteten eine Senkung von mindestens zwei Punkten auf der 0-10-Skala. Ich kann anhand der Daten nicht bestimmen, ob diese Behandlung wirkungsvoller als die mit dem Misophonie-Management-Programm ist, denn dadurch, dass die Daten auf Selbstbewertungen basieren und die berichteten Veränderungen gering sind, ist eine Auswertung sehr problematisch. Patienten werden unbewusst davon beeinflusst, dass sowohl sie als auch ihr Arzt eine Verbesserung sehen wollen, und das spiegelt sich in ihrer Selbstbewertung wider. Wir hoffen natürlich, dass diese Behandlung eine positive Auswirkung auf Misophoniker hat und dass es zukünftig mehr Informationen bezüglich der Tinnitus-Retraining-Therapie und den Vorzügen ihrer individuellen Komponenten geben wird.
Das Blockieren des Reflexes
Es gibt einige misophonische Reflexe, die Sie blockieren können. Meine Lieblingspatienten sind die, deren Reflex die Verengung der Speiseröhre ist, denn dieser ist einer der wenigen Reflexe, die blockiert werden können, bevor sie ausgelöst werden. Sie müssen einfach nur schlucken, wenn sie ihren Trigger hören. Wenn das also Ihr Reflex ist, können Sie sogar schon innerhalb von ein oder zwei Wochen eine Verbesserung erreichen. Schlucken Sie innerhalb einer Sekunde, nachdem Sie den Trigger gehört haben. Auf diese Weise tragen Sie zur Gegenkonditionierung Ihres Initialreflexes bei, können ihn reduzieren und schließlich eliminieren. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass Misophonie eine konditionierte Reflexstörung ist.
Ein recht üblicher Reflex ist das Schnappen nach Luft. Sie haben ebenfalls Glück, wenn Sie diesen Reflex haben, denn er kann mit einfachem Atmen bewältigt werden. Wichtig ist, die Luft nicht anzuhalten, sondern so zu atmen, wie es Taucher tun. Im Tauchunterricht wurde uns beigebracht, ständig ein- und auszuatmen und niemals die Luft anzuhalten. Würde man das tun, so könnten die Lungen Schaden nehmen. Üben Sie also Unterwasseratmung. Atmen Sie langsam vier oder fünf Sekunden lang ein, und dann im gleichen Rhythmus wieder aus. Wenn Sie so Ihre Atemmuskulatur kontrollieren, werden Sie Ihre Misophonie beträchtlich reduzieren. Es scheint eine sehr geringe Anzahl von Reflexen zu geben, die man mit einem noch stärkeren Reflex blockieren kann. Wenn Sie einen Weg gefunden haben, einen Ihrer Reflexe auf diese oder eine andere Weise zu hemmen, teilen Sie es mir bitte mit. Vielleicht gibt auch weitere medizinische Behandlungen (z.B. Botox?), die Ihnen geholfen haben. Bitte setzten Sie mich auch darüber in Kenntnis, denn alle derartigen Informationen helfen mir im Kampf gegen die Misophonie.
Misophonie-Behandlung mit der Trigger-Variations-Technik (TVT)
Die Trauma Buster Technique (TBT) ist eine Methode zur sanften Behandlung von Traumafolgesymptomen. Dass ein kleiner Teil der TBT-Methode (der auf den auditiven Kortex im Gehirn wirkt) bei der Auflösung von misophonischen Triggern hilft, war eine Zufallsentdeckung. Diese TBT-Auditiv-Behandlung, die wir TVT genannt haben, rührt keine Traumata an; man muss dazu nur seinen Trigger kennen – mehr nicht.
Nach dem letzten Kompetenztag in Berlin habe ich mit den dort anwesenden Therapeuten eine Arbeitsgruppe Misophonie gegründet. Nun haben wir ein komplettes Behandlungskonzept ausgearbeitet. Denn wir haben festgestellt, dass mit TVT zwar sehr schnell Erfolge zu erzielen sind, die Triggerreaktion aber meist nicht komplett verschwindet. Auch Wiederholen desselben Behandlungsablaufs brachte keine weiteren Verbesserungen. Erst als wir den vollständigen TBT-Prozess auf frühere Ereignisse, die mit dem Trigger zusammenhingen, angewandt haben, fiel die Intensität der Triggerreaktion weiter.
Wir haben Erfahrungen mit mittlerweile 60 Klienten gesammelt, die mit TVT behandelt worden sind. Das Ergebnis ist Folgendes:
Bei 10% war der Trigger sofort nach der Behandlung vollkommen und dauerhaft verschwunden
Bei 85% wurde die Triggerintensität um etwa die Hälfte reduziert
Bei 5% zeigte die Behandlung keinerlei Wirkung auf den Trigger
Der Zeitaufwand beträgt etwa 15 bis 30 Minuten pro Trigger.
In den Fällen, in denen noch keine vollständige Auflösung der Triggerreaktion erreicht worden ist (also in 90% aller Fälle), folgt eine TBT-Behandlung, mit der frühere Ereignisse, die mit dem Trigger zusammenhängen, aufgelöst werden. Nach unserer bisherigen Erfahrung lässt sich dadurch eine weitere Reduktion der Triggerreaktion erreichen. Pro Sitzung kann eines dieser Ereignisse behandelt werden. Meist sind nur ein bis zwei Sitzungen notwendig, um die Triggerreaktion durchschnittlich um 90% zu reduzieren.
Wir möchten hier vorsichtig sein: Bislang scheint die Wirkung dauerhaft zu sein. Allerdings macht die Behandlung mit TVT nicht immun! Jemand, der dazu neigt, misophonische Triggerreaktionen zu entwickeln, wird immer vorsichtig sein müssen, wenn er unter Stress sich wiederholenden Geräuschen ausgesetzt ist. Hier sind alle Tipps von Thomas Dozier hilfreich.
Momentan bieten wir TVT sowohl in der Therapie als auch im Coaching an. Die Technik stellt eine eine Sofortmaßnahme dar, eingebunden in einem größeren Konzept, das insgesamt das Leben mit einer Misophonieneigung verbessern soll.
TVT inspiriert durch Amsterdamer Misophonieforschung
Für Menschen, die unter Misophonie leiden, dreht sich alles um ihre Trigger. Jemand, der z. B. auf Essgeräusche reagiert, kann nur noch bedingt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen; bei zu vielen Gelegenheiten wird gegessen. Seitdem die Studie von Misophonie-Forscher Thomas H. Dozier belegt hat, dass es sich bei Misophonie um eine komplexe Konditionierung handelt, ist klar, dass eine Behandlung nur dann erfolgreich sein kann, wenn der Betroffene entspannt ist und sich in einer positiven Grundstimmung befindet. Und gerade das ist schwierig, weil jede Konfrontation mit Triggern Wut oder Ekel auslöst. Alles andere als gute Voraussetzungen für die Behandlung. Therapeutische Ansätze, die eine entspannte Beschäftigung mit Triggern ermöglichen, werden dringend gesucht. Die Universitätsklinik Amsterdam, die auf diesem Gebiet forscht und auch die „Amsterdam Misophonieskala“ entwickelt hat, versucht es damit, Betroffene ihre Triggergeräusche mit einem Computer verfremden zu lassen (Siehe entspr. Beitrag).
Die Trauma Buster Technique wurde zur Auflösung von Traumafolge-Symptomen entwickelt. Auch hier werden stressbehaftete Erfahrungen auf unterschiedlichste Arten verändert – in der eigenen Vorstellung. Der Ansatz der Forscher aus Amsterdam war Anlass, TBT für die Auflösung von auditiven Misophonie-Triggern einzusetzen.
Klopfakupressur
Das Beklopfen bestimmter Akupunkturpunkte bei gleichzeitiger achtsamer Beobachtung der eigenen Gefühle ist mittlerweile weltweit bekannt und in der Effektivität unübertroffen.
Das übliche Vorgehen funktioniert leider nicht
Leider fällt Misophonie als Konditionierung eines aversiven Reflexes sehr aus dem Rahmen der Beschwerden, die sich mit Klopftechniken leicht auflösen lassen. Bei einer Spinnenangst z. B. würden Sie sich Schritt für Schritt einer Spinne nähern, während Sie gleichzeitig auftretende Emotionen wie Angst oder Ekel durch das Klopfen auflösen. Am Ende können Sie die Spinne sogar problemlos berühren. Bei Fahrstuhlangst nähern Sie sich langsam einer Fahrstuhlfahrt, bei Höhenangst einem Geländer und so weiter. Genau dieses übliche Vorgehen funktioniert bei Misophonie überhaupt nicht! Die Hoffnung, dass Sie sich nur beklopfen müssen, während Sie sich Ihrem Trigger aussetzen, ist vergeblich. Das wäre eine Konfrontation, die die Misophonie sogar noch verschlimmern kann!
Wie Klopfakupressur helfen kann
Trotzdem können Sie Klopfakupressur einsetzen. Das Beklopfen der Meridiane hat eine beruhigende Wirkung. So können Sie die Wut, nachdem Sie getriggert worden sind, durch Klopfen schneller loswerden. Auch wenn Sie vor bestimmten Situationen Angst spüren, weil sie befürchten, getriggert zu werden, können Sie so auflösen. Auch die Kombination mit der „Keine Gefahr, trotzdem Danke“-Technik hat sich bewährt. Benutzen Sie diesen Satz als Erinnerungssatz, währen Sie Ihre Wut auflösen.
Trauma and Tension Releasing Exercises (TRE)
Diese körperbasierte Technik hat sich besonders bei den Misophonikern bewährt, deren Muskelreflex sehr stark ist und die dadurch schon sehr stark verspannt sind. Ich hatte schon Fälle, bei denen allein der Einsatz dieser Technik zur Auflösung der Misophonie geführt hat.
Hintergrund zur Technik: Muskeln fangen an zu zittern, wenn sie entweder überlastet oder verspannt sind. Das Zittern von verspannten Muskeln aber lässt sich bewusst unterdrücken. Da Zittern verpönt ist, unterdrücken wir diese natürliche gesunde Funktion der Muskulatur vom Kleinkindalter an und haben uns als Kind und Erwachsener so daran gewöhnt, dass wir uns dessen nicht mehr bewusst sind. Durch gezielte Übungen kann man den Muskeln das Zittern wieder erlauben. Die Tiefenentspannung, die dadurch erzielt werden kann, ist enorm.
Zum Schluss: Die Suche nach Therapeuten, die sich mit Misophonie auskennen…
…gestaltet sich schwierig. Wir haben probeweise sämtliche Psychotherapeuten der Landkreise Vechta und Oldenburg abtelefoniert. Kein einziger wusste etwas über Misophonie. Einige hatten sich aufgrund unserer Anfrage im Internet informiert und meinten, sie seien eher nicht zuständig (was bei tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapeuten auch stimmt).
Eine einzige Adresse haben wir (von einem Betroffenen) bis jetzt: ein Ohrenarzt, der sich mit dem Thema auskennt. Er kann Misophonie diagnostizieren und entsprechend dann z.B. Noiser verschreiben, die die Gefahr des getriggert werdens senken. Damit wird man seine Misophonie zwar nicht los, aber es verhindert zumindest eine Verschlimmerung. Seine Adresse: Dr. med. Christian Hellweg, Goethestraße 21, 60313 Frankfurt am Main (Website).
Was nun die Suche nach einem Verhaltenstherapeuten mit Kassenzulassung betrifft: Solange Sie selbst genau über Misophonie Bescheid wissen, genügt es, wenn Sie einen finden, der Sie ernst nimmt. Die Aufklärung über Misophonie und die erforderlichen Behandlungsschritte (Konfrontation unter Entspannung, auf keinen Fall etwas in Richtung Flooding) können Sie dann selbst übernehmen und weiter verfahren. Das ist besser als nichts.
Die hier angeführten Bewältigungsstrategien werden zwar nicht Ihre misophonischen Reflexe ändern, können aber deren Auswirkung auf Ihr Leben reduzieren. Gute Bewältigungsstrategien können Ihren Misophonie-Schweregrad um einiges senken und sie sind generell der erste Schritt im Behandlungsverlauf, denn sie bieten sofortige Linderung. In manchen Fällen sind sie sogar ausreichend, um den Schweregrad auf ein akzeptables Niveau zu senken.
Auch wenn Sie nicht selbst betroffen sind, sondern mit einem Misophoniker zusammenleben: Ergreifen Sie alle Maßnahmen vorausschauend und seien Sie konsequent. Wenn Sie beispielsweise Hintergrundgeräusche im Esszimmer verwenden, dann tun Sie es ohne Ausnahmen. Und warten Sie nicht, bis der Misophoniker sich beschwert oder schreiend aus dem Zimmer rennt. Er wird gelassener sein, wenn Sie zuverlässig und vorausschauend seine Trigger minimieren oder sogar ganz eliminieren. Wenn er nicht dauernd vor potentiellen Triggern Angst haben muss, senkt sich sein Angstniveau. Der Schweregrad seiner Misophonie wird stark vermindert, einschließlich der extremen Emotionen, die mit seinen Triggern verknüpft sind.
Offen über Misophonie reden
Wenn wir versuchen, unsere Trigger und die damit verbundenen Gefühle zu beschreiben, verwenden wir meist Alltagsbegriffe. Wir sagen zum Beispiel: „Mir gefällt das Geräusch nicht“, oder „Die Geräusche stören, irritieren oder nerven mich unheimlich“. Das Problem dabei ist, dass diese Ausdrücke Missverständnisse verursachen, denn andere denken dann, dass sie genau wissen, was Sie damit meinen. Wenn Sie z.B. sagen: „Ich mag das Geräusch nicht“, denke ich mir: „Ich mag keine gekochten Rüben“. Ich weiß also angeblich genau, was es bedeutet, etwas nicht zu mögen und nehme an, es ist eine bloße Abneigung Ihrerseits, die man einfach überwinden kann. Oder wenn Sie sagen „Das Geräusch nervt mich“, könnte ich mir denken: „Ich weiß genau wie das ist, denn Hausfliegen nerven mich auch.“ Ich nehme einfach an, dass ich verstehe, wie Sie sich fühlen, wenn Sie einem Trigger ausgesetzt sind, obwohl ich eigentlich keinen Schimmer habe. Ich schlage daher vor, dass Sie das Wort „Trigger“ verwenden. Die andere Person wird nämlich nicht wissen, was das ist, also können Sie es ihr erklären. Wenn Sie jemandem deutlich machen, dass ein Geräusch für Sie ein Trigger ist, wird er verstehen, dass es sich nicht nur um eine Abneigung handelt, die man überwinden oder in den Griff bekommen kann. Das ist besonders bei Kindern wichtig, Denn Eltern erwarten generell, dass ihr Kind lernt, Dinge zu tolerieren, obwohl es sie nicht mag. Kinder sollen sich nun mal an Essen, bestimmte Tätigkeiten oder andere Sachen, die ihnen nicht gefallen, gewöhnen. Das gehört zum Erwachsenwerden. Eltern dürfen aber nicht von ihrem Kind erwarten, dass es seine misophonischen Trigger toleriert. Wenn Sie mit jemanden, der Ihnen nahesteht und Sie triggert, über Ihre Misophonie reden, seien Sie vorsichtig, dass daraus kein persönlicher Angriff wird. Denken Sie immer daran, dass es Ihr Reptiliengehirn und nicht die Person als solche ist, die Sie sowohl physisch als auch emotional angreift. Vermeiden Sie also Ausdrücke wie: „Du treibst mich in den Wahnsinn, wenn Du …“, oder „Ich hasse es, wenn Du so kaust“. Versuchen Sie es lieber mit: „Dieses Geräusch ist ein Trigger für mich“, oder „Wenn ich dieses Geräusch höre, verliere ich einfach die Kontrolle.“ Reden Sie über sich und das Geräusch, nicht über Ihr Gegenüber. Es handelt sich um einen Reflex, daher sollten Sie auf ihr Reptiliengehirn und nicht auf die andere Person sauer sein. Beschreiben Sie Misophonie als eine neurologische Störung oder eine Reflex-Störung. Sagen Sie beispielsweise:
„Ich leide an einer neurologischen Störung, die Misophonie heißt. Einige ganz normale Geräusche wirken als Trigger und lösen bei mir einen unangenehmen Reflex und extreme negative Gefühle aus. Es fühlt sich an wie ein körperlicher und emotionaler Angriff, so als ob mir jemand eine Ohrfeige verpasst (mit einem Stock oder Viehtreiber in die Rippen sticht, oder wie ein Stromschlag). Wenn ich den Trigger höre, bin ich emotional derartig aufgewühlt, dass ich mich auf gar nichts anderes konzentrieren kann.“
Das ist eine recht genaue und verständliche Definition von Misophonie. Wenn Sie einfach sagen: „Diese Geräusche regen mich auf“, werden andere nicht verstehen was sie meinen. Jeder weiß jedoch was ein Reflex ist und was dabei mit einer Person passiert.
Schaffen Sie eine triggerfreie Oase
Die meisten Misophoniker brauchen einen triggerfreien Ort, an dem sie dem emotionalen und physiologischen Stress entkommen können. An diesem Ort hält man sich nicht durchgehend auf, man benutzt ihn nur als Zufluchtsort. Hier kann man sich wieder fangen und logisch darüber nachdenken, wie man seine Misophonie in den Griff bekommt. Kopfhörer sind häufig Hauptkomponenten einer triggerfreien Oase. Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung, wie die Bose QC20 oder QC25 sind nützlich. Jedoch benötigen Sie zusätzlich noch eine Rausch-App, um Ihre Trigger ausreichend zu blockieren. Nachdem ich die meisten Marken getestet habe, empfehle ich Bose Kopfhörer oder auch den Parrott Zik 2.0. Ein Problem dieser beiden Marken ist jedoch, dass sie die höheren Frequenzen, so wie sie im Schniefen enthalten sind, nicht neutralisieren. Sollten Sie speziell von solchen Geräuschen getriggert werden, sind die Etymotic MC5 Kopfhörer – Ohrenstöpsel mit integrierten Lautsprechern – eine billigere und bessere Alternative. Auf Dauer gesehen sind Ohrenstöpsel alleine nicht empfehlenswert, da sie die Empfindlichkeit des Gehörs steigern und somit Hyperakusis verursachen können. Während Sie wach sind, brauchen Sie akustische Stimulation, um Ihre Misophonie in den Griff zu bekommen. Es gibt natürlich Ausnahmen, wie zum Beispiel ein Examen. Einer meiner Patienten tischlerte in seiner Freizeit. Weil Maschinenlärm sein Trigger war, hatte er sein Hobby aufgegeben. Durch Gehörschutz mit Ohrenstöpseln sowie zusätzliche Hintergrundgeräusche konnte er aber schließlich alle seine Trigger blockieren. Es bedarf der Kooperation aller Familienmitglieder, um eine triggerfreie Oase zu schaffen. Es sollten Regeln beachtet werden, die festlegen, welche Aktivitäten wo ausgeführt werden dürfen. So kann man eine vorübergehende Lösung schaffen, bis weitere Bewältigungsstrategien angewendet werden können.
Gesundheit und Wohlbefinden
Trigger beeinträchtigen Sie weniger, wenn Sie sich gut fühlen. Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden sind umgekehrt proportional zum Schweregrad Ihrer Misophonie. Damit will ich nicht behaupten, dass eine gesunde Person nie extrem unter Misophonie leiden kann, doch es ist generell so, dass sie sich verschlimmert, wenn man sich unwohl fühlt. Manche haben bemerkt, dass sich ihre Misophonie noch verschlimmert, wenn sie am Abend zuvor Alkohol getrunken haben. Andere spüren dieselbe Auswirkung, wenn sie zu viel Süßes oder Kohlenhydrate essen. So fragen sich manche Misophoniker, ob sie bestimmte Lebensmittel lieber meiden sollten. Wenn es bestimmte Nahrungsmittel gibt, die Ihr Körper nicht toleriert, dann verschlimmert das Ihre Misophonie. Laktoseintolerante Misophoniker sollten daher auch wegen ihrer Misophonie Milchprodukte vermeiden. Wenn Sie eine Glutenallergie haben, dann meiden Sie Weizenprodukte. Aber nur weil ein Misophoniker seine Störung besser in den Griff bekam, weil er keine Karotten mehr aß, heißt das nicht, dass Sie das gleiche positive Ergebnis damit erzielen können. Bei vielen Misophonikern haben unterschiedlichste Diäten zu deutlichen Verbesserungen geführt, also lohnt es sich, seine Essgewohnheiten zu überprüfen. Regelmäßig Sport zu treiben, gut zu schlafen und ausgewogen zu essen wird Ihre Misophonie sowie Ihre Gesundheit verbessern – eine Win-win-Situation. Eine Frau hatte einen interessanten Kommentar auf Facebook veröffentlicht: Magnesium hatte ihre Misophonie deutlich verbessert. Daraufhin versuchten viele andere, sich mit Magnesium in unterschiedlichen Dosierungen zu behandeln, aber es schien keinerlei Auswirkung zu haben. Es stellte sich schließlich heraus, dass sie aufgrund von Komplikationen nach einem Beinbruch an chronischen Schmerzen litt. Das Magnesium linderte die Schmerzen und das wiederum linderte ihre Misophonie. Durch den misophonischen Reflex verschlimmerten sich die Schmerzen im beeinträchtigen Bein. Das Magnesium linderte ihren ursprünglichen chronischen Schmerz, und ihr körperlicher Reflex war danach weniger schmerzhaft.
Triggern aus dem Weg gehen
Misophonikern wird in der Regel gesagt, sie sollten sich zusammenreißen und lernen, ihre Trigger auszuhalten. Besonders Kinder wollen nichts verpassen und bleiben daher oft in einem triggerreichen Umfeld, nur um nicht alleine zu sein, oder weil ihre Eltern ihnen gesagt haben, dass sie ihre Trigger ignorieren sollen. Oftmals wollen Misophoniker einfach keinen Ärger machen und in der Hoffnung, dass sie sich allmählich an ihren Trigger gewöhnen, versuchen sie ihn auszuhalten. Man kann sich aber nicht an einen Trigger gewöhnen. Im Gegenteil – der Stress wird von Mal zu Mal größer. Die meisten Patienten geben an, dass sie ein Zimmer erst verlassen, nachdem sie versucht haben, das Geräusch eine Zeit lang auszuhalten. Nur wenige ergreifen sofort die Flucht. Der Schweregrad der Misophonie einer Person basiert sowohl auf der individuellen Trigger-Erfahrung, als auch auf der Anzahl der Trigger, der sie ausgesetzt ist. Misophoniker reagieren wirklich nur auf ihre persönlichen Trigger, nicht auf Geräusche oder visuelle Eindrücke im Allgemeinen. Die erste Bewältigungsstrategie besteht daher schlicht und einfach darin, die Anzahl der Trigger zu reduzieren. Mehr dazu später. Vermeiden Sie Ihre Trigger, denn getriggert zu werden verschlimmert Ihre misophonische Reaktion auf zweierlei Weise. Erstens verstärkt sich dadurch der ursprüngliche Reflex, und zweitens können Sie sich weitere Trigger „einfangen“, wenn sie gleichzeitig ein zweites Geräusch wahrnehmen. Um diese Verschlimmerungen zu vermeiden, versuchen Sie, Ihren Triggern aus dem Weg zu gehen. Sie können sich aktiv von ihnen entfernen oder die betreffende Triggerperson bitten, mit dem Geräusch aufzuhören. Auf keinen Fall sollten Sie versuchen, einen Trigger einfach auszuhalten.
Es ist zwar nicht immer möglich, Trigger gänzlich zu vermeiden, doch Sie können Ihre Reaktion und gleichzeitig die Ausweitungsgefahr auf neue Trigger minimieren. Zu diesen Techniken gehört der Einsatz von Hintergrundgeräuschen, z.B. mit einem Ventilator, einem Rauschgenerator, Kopfhörern oder Tinnitus Maskern/Tinnitus Noisern. Wenn Sie auf diese Weise Ihren Triggerreflex minimieren, lindern Sie Ihre emotionale Belastung und es ist weniger wahrscheinlich, dass Sie sich einen neuen Trigger einfangen. Um Ihre emotionalen Reaktionen zu reduzieren, versuchen Sie, den Trigger als einen körperlichen Reflex anzusehen. Sagen Sie sich: „Da zwickt mich wieder mein Reptiliengehirn. Es ist nicht die andere Person, die mich da attackiert“. In einer Fallstudie gelang es der Patientin damit nachweislich, Ruhe zu bewahren, wenn sie ihren Trigger hörte. Ihr gefielen die Geräusche zwar nicht, aber sie konnte den emotionalen Aufruhr, den sie zuvor verursachten, bewältigen und so neue Trigger vermeiden. Wenn Sie Ihre Muskeln sofort nach einem Trigger entspannen, können Sie Ihre Wut reduzieren. Das ist leichter gesagt als getan, aber Übung macht den Meister.
Was können Sie also tun, wenn Sie einem Trigger ausgesetzt sind? Ihre erste Option ist, sich von dem Geräusch zu entfernen. Wenn Ihr Kind an Misophonie leidet, geben Sie ihm die Freiheit, sich zurückzuziehen. Wenn es vom Esstisch aufsteht, machen Sie keine große Sache daraus. Wenn Sie sich darüber beschweren, und offensichtlich verärgert sind, üben Sie Druck auf Ihr Kind aus. Es ist wichtig, dass es sich frei entscheiden kann, sich von seinen Triggern zu entfernen. Als Misophoniker müssen Sie sich vor Ihren Triggern schützen. Wenn Sie stattdessen versuchen, sie auszuhalten, verschlimmert sich Ihre Misophonie nur. Sobald Sie einen Trigger wahrnehmen, entfernen Sie sich am besten sofort. Verwenden Sie Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung zusammen mit einer Geräusch App, um mit weißem Rauschen ihre akustischen Trigger völlig auszublenden.
Bewältigungsstrategien für die ganze Familie
Die ganze Familie sollte am gleichen Strang ziehen, damit der Misophoniker seinen Triggern nicht ausgesetzt wird. Er hat sich schließlich diese Störung nicht ausgesucht und sollte daher auch nicht als einziger Opfer bringen müssen. Die Situation ist vergleichbar mit einer Familie, in der eine Person im Rollstuhl sitzt. Alle sind betroffen und helfen bei der Bewältigung des Alltags. Wenn also ein Kind Misophonie hat und das Kauen des Vaters sein einziger Trigger ist, dann kann mit etwas Planung vermieden werden, dass der Vater in der Gegenwart seines Kindes kaut. Es ist wichtig, dass der Misophoniker beim Planen miteinbezogen wird. Es kann etwas problematisch mit Kindern sein, die sich eventuell nicht an den Plan halten wollen, doch es ist wichtig, dass die Eltern mit gutem Vorbild vorangehen. Für Ehepartner gilt das gleiche – ein Plan ist nötig, damit Trigger vermieden werden. Und denken Sie dabei immer daran, das Ganze nicht persönlich zu nehmen.
Sorgen Sie für eine geräuschvolle Umgebung
Misophonische Reaktionen scheinen stärker zu sein, wenn der Trigger das einzige wahrnehmbare Geräusch ist. Wenn es so leise ist, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte, dann dreht Ihr Gehör sozusagen seine Geräuschempfindlichkeit hoch und alles hört sich lauter an – auch Trigger. Je lauter ein Trigger ist, desto stärker fällt der misophonische Reflex aus. Wenn es still ist, fällt der Trigger noch mehr auf, da es keine konkurrierenden Geräusche gibt. Der Klang des Triggers wird in einer stillen Umgebung außerdem viel klarer und reiner wahrgenommen. Wenn es gelingt, die Klarheit des Triggergeräusches mit Hilfe anderer Geräusche zu dämpfen, kann man die misophonische Reaktion minimieren oder gar ganz verhindern.
Das „Misophonie-Management-Programm“
Die Audiologin Martha Johnson entwickelte vor einigen Jahren das „Misophonie-Management-Programm“ (MMP). Bei dieser Behandlungsmethode, die sich in den letzten Jahren etabliert hat, werden zum einen Hintergrundgeräusche im Alltag eingesetzt, zum anderen unterzieht sich der Patient sechs bis zwölf Wochen lang einer Behandlung (kognitive Verhaltenstherapie, dialektische Verhaltenstherapie, etc.), um negative Gedanken gegenüber seinen Triggergeräuschen zu bekämpfen und Bewältigungsstrategien zu erlernen. Mit einem Ventilator können Sie billig und effektiv ein lautes Hintergrundgeräusch produzieren. Rauschgeneratoren wie die „Schlafhilfe SleepMate“ von DOHM oder der „LectroFan“ sind gerade mal so groß wie ein CD-Stapel. Der DOHM ist eigentlich ein Ventilator, bei dem Lautstärke und Tonhöhe regelbar sind. Der LectroFan produziert das Rauschen elektronisch und bietet zehn Gebläsegeräusche und zehn sonstige Geräusche. Auch bei ihm kann die Lautstärke geregelt werden. Der LectroFan hat derzeit eine positivere Bewertung bei Amazon und verbraucht weniger Strom, aber der DOHM ist bei Misophonikern sehr beliebt. Es ist ratsam, jedes Zimmer mit einem solchen Gerät auszustatten, in dem Sie gewöhnlich Ihren Triggern ausgesetzt sind. Natürlich können Sie auch mit einem Fernseher oder Radio Hintergrundgeräusche produzieren, doch das ist nicht so ideal wie die oben genannten Geräte, die weißes Rauschen erzeugen. Musik oder Fernsehgeräusche variieren stark in der Lautstärke und blockieren Ihre Trigger nicht vollständig. Sie können auch eine App für weißes Rauschen auf Ihr Smartphone laden und über die Stereoanlage abspielen. Verwenden Sie entweder weißes Rauschen, rosa Rauschen oder Regengeräusche, was auch immer Sie vorziehen.
Kopfhörer
Sie können sich das Hintergrundrauschen des Misophonie-Management-Programms auch mit offenen Kopfhörern anhören, was eine günstige Lösung ist. Wenn Sie eine Geräusch-App auf ihr Handy oder Ihr Tablet herunterladen möchten, empfehle ich die (kostenlose) App White Noise von TMSOFT (Alle Links zu den genannten Hilfen finden Sie unter “Hilfreiche Technik, Apps, Kurse”).
Diese Kopfhörer werden direkt am Ohr befestigt. Da die Lautsprecher Ihren Gehörgang nicht verschließen, können Sie noch gut hören. So vermischen sich die Hintergrundgeräusche Ihrer App mit Ihren Alltagsgeräuschen. Als günstige Version eines persönlichen Tonerzeugers können Sie einen tragbaren MP3-Player benutzen, um ein Rauschen abzuspielen. Stellen Sie die Lautstärke so hoch ein, dass Ihr Reflex auf die Triggergeräusche reduziert wird. Wenn Sie kein Smartphone haben, können Sie sich ein billiges Android-Handy zulegen. Für diesen Zweck brauchen Sie keinen Handy-Vertrag und haben somit keine monatlichen Kosten. Trotz des Misophonie-Management-Programms (MMP) und Tonerzeugern kann die Situation am Esstisch problematisch werden, weil Kopfhörer keine visuellen Trigger blockieren können. Diese sind eigenständig, d.h. sie wirken auch in einem völlig geräuschlosen Umfeld als Auslöser. Selbst wenn ein Misophoniker mit geräuschunterdrückenden Kopfhörern nichts hört, können Kieferbewegungen ihn triggern. Ich hatte ein Kind in Behandlung, das nicht ertragen konnte, seine Eltern essen zu sehen. Die Familie wollte ihre Mahlzeiten aber gemeinsam einnehmen, also fanden sie eine gute Lösung: sie saßen alle auf einer Seite vom Esstisch. Das mag zwar eigenartig erscheinen, funktionierte aber hervorragend, und das Kind musste nicht alleine in seinem Zimmer essen. Zusammenfassend kann man sagen, dass neutrale Geräusche wie Hintergrundrauschen etc. die schnellste und einfachste Bewältigungsstrategie bei Misophonie sind. Sie können den Triggerreflex drastisch reduzieren. Führen Sie also Geräusche in Umgebungen ein, von denen Sie wissen, dass Sie dort Triggern ausgesetzt sein werden. Dadurch wird Ihre Misophonie nicht geheilt, aber erträglicher werden. Denken Sie aber daran, dass diese Strategie keinerlei Auswirkung auf Ihre visuellen Trigger hat.
Ohrstöpsel
Zunächst möchte ich Sie davor warnen, Ohrstöpseln zu oft zu benutzen. Ihr Gehirn braucht akustische Reize und passt sich automatisch Ihrem Umfeld an. Wenn Sie Ihr Gehirn also dauernd abschotten, wird Ihr Gehör empfindlicher und nimmt leise Geräusche deutlicher wahr. Da Misophonie häufig von leisen Geräuschen ausgelöst wird, kann die exzessive Benutzung von Ohrstöpseln Ihre Empfindlichkeit auf leise Triggergeräusche erhöhen. Vermeiden Sie also den täglichen Gebrauch. Verwenden Sie lieber Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung und Musik oder weißem Rauschen, damit Ihr Gehör weiterhin stimuliert wird.
Korrekter Gebrauch von Ohrstöpseln
Nachts oder für kurze Zeitperioden, beispielsweise während Prüfungen, können Sie natürlich ohne weiteres Ohrstöpsel verwenden. Versichern Sie sich, dass Sie sie richtig ins Ohr einführen. Jeglicher Teil des Stöpsels, der nicht im Gehörgang steckt, ist verschwendetes Material, denn dort blockiert es schließlich keine Geräusche. Erhältlich sind ganz unterschiedliche Modelle. Es gibt geformte, abgerundete Schaumstoffkegel, ausgestanzte Schaumstoffzylinder und solche aus Silikon. Ein Akustiker kann Ihnen auch spezielle Ohrstöpsel anpassen. Die geformten Schaumstoffstöpsel können öfter verwendet werden, aber sie drücken auch härter gegen den Gehörgang, was beim Schlafen wehtun kann. Ich benutze am liebsten die ausgestanzten, die aber nur ein paar Mal gebraucht werden können. Die Silikonstöpsel sind eine beliebte Variante, werden allerdings nicht so positiv bewertet wie die aus Schaumstoff. Sie senken aber die Lautstärke der Triggergeräusche um einiges. Probieren Sie aus, was für Sie am besten geeignet ist, aber denken Sie daran: Ohrstöpsel sollten nur für kurze Zeit eingesetzt werden, damit Ihr Gehör nicht noch empfindlicher wird.
Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung
Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung schirmen Sie vor Außengeräuschen ab, während Sie gleichzeitig damit eine Audioquelle abspielen können, damit die Ohren stimuliert werden. Obwohl Kinder lieber Musik hören, dient weißes Rauschen besser dazu, Trigger zu blockieren. Musik ist mal laut, mal leise und dann ist da immer die Pause zwischen den Liedern. Weißes Rauschen dagegen ist konstant und umfasst Frequenzen, die oft Ihren Triggergeräuschen ähnlicher sind als Musik. Die Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung von Bose (QC20/20i und QC25) sind sehr hilfreich bei der Bewältigung Ihrer Misophonie. Die QC20/20i Kopfhörer waren die ersten, die entwickelt wurden, um einmalige Geräusche (z.B. Stimmen) zu unterdrücken. Jegliche Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung können verwendet werden, aber da wir hauptsächlich Trigger blockieren wollen, sind diese Bose Kopfhörer empfehlenswert. Die QC20 sind Ohrhörer, die Ihren Gehörgang von außen blockieren und daher sehr bequem sind. Die Bose QC25 sind gleichermaßen gut und haben Ohrmuscheln. Die einzigen anderen Kopfhörer, die ebenso effektiv Geräusche unterdrücken, sind die Parrot Zik 2.0. Sie eliminieren Triggergeräusche regelrecht, wenn Sie die Geräuschunterdrückung anstellen und eine Geräusch-App verwenden. Dabei sind sie nicht so laut, dass Ihr Gehör dabei geschädigt würde. Allerdings sind diese Kopfhörer darauf ausgelegt, niederfrequente Geräusche zu blockieren und bei bestimmten Geräuschen, beispielsweise Schniefen, weniger effektiv. Die Etymotic MC5 sind preiswerter und blockieren Trigger noch besser, sind aber nicht so bequem oder praktisch wie die Bose Kopfhörer. Die Bose Kopfhörer sind zwar etwas teurer, doch Sie kommen wirklich auf Ihre Kosten. Eine preiswerte Alternative sind Ohrstöpsel zusammen mit Ohrmuschelkopfhörern. Die Stöpsel wirken einem Gehörschaden entgegen, gleichzeitig eliminieren Sie mit der lauten Musik oder dem weißen Rauschen sämtliche anderen Geräusche. So erhält Ihr Gehirn zwar noch akustische Eindrücke, nimmt aber keine Trigger wahr. Umgekehrt können Sie auch In-Ohr-Kopfhörer als Rauschgeber und darüber Gehörschutzkapseln („Mickey-Mäuse“) verwenden. Beide Kombinationen sind preiswerte Methoden zum Blockieren von Triggern.
Progressive Muskelentspannung (PME) nach Jacobson
Unsere Muskeln spannen sich auf andere Art und Weise an, wenn wir ruhig und glücklich sind, als wenn wir uns ärgern. Wenn Ihre Muskeln immer angespannt sind, glaubt Ihr Körper schließlich, dass Sie genervt sind. Wenn sie täglich Übungen zur progressiven Muskelentspannung machen, werden Sie sich Ihrer Gefühle genauer bewusst. Bei einer Variante der PME werden die Muskeln entspannt, ohne sie zuvor anzuspannen. Diese Entspannung zu üben ist bei Misophonie gleichermaßen sinnvoll. Nachdem Sie mindestens zehn Minuten lang PME mit Muskelanspannung geübt haben, entspannen Sie jede Muskelgruppe in der gleichen Reihenfolge, eine nach der anderen, aber ohne die vorherige Anspannung. Fangen Sie mit ihren Fäusten für fünf bis zehn Sekunden an und machen dann weiter mit Bizeps, dann Trizeps, Stirnmuskeln und so weiter. Diese Entspannung dauert nur ca. zwei Minuten und sollte zwei Mal täglich durchgeführt werden. Schließlich lernen Sie, alle Muskeln simultan zu entspannen. Setzen oder legen Sie sich bequem hin, und sagen Sie sich: „Entspann Dich!“ Entspannen Sie alle Ihre Muskeln. Suchen sie nach verbleibender Spannung im Körper und sagen Sie wieder: „Entspann Dich!“, bis alle Muskeln völlig gelöst sind. Bleiben Sie für eine Minute in diesem Zustand. Man kann beide Entspannungstechniken in ca. zwölf Stunden erlernen. Sie können entweder alleine oder mit einem Therapeuten üben. Die größte Herausforderung dabei ist, täglich dabei zu bleiben. Schreiben Sie sich die Zeit zum Üben in Ihren Terminplan. Die Mühe lohnt sich.
PME – Ein Erfahrungsbericht
Im Misophonie-Seminar 2013 für Audiologen traf ich einen 50-jährigen Mann, der Muskelentspannung einsetzte, um seine Wut nach einem Trigger zu reduzieren. Im Teenageralter hatte er PME erlernt, um eine Angststörung zu bewältigen und setzte diese Technik schon jahrelang ein, um seine emotionalen Reaktionen nach einem Trigger zu beeinflussen. Zwar hatte er mit PME angefangen, mittlerweile praktizierte er sie aber ohne das vorherige Anspannen der Muskeln. Sofort nach einem Trigger alle Muskeln zu entspannen verhinderte seinen Wutausbruch. Die physiologische Komponente von Wut ist Muskelanspannung. Wenn Sie also wütend werden, aber Ihre Muskeln bewusst entspannen, täuschen Sie Ihr Gehirn und können Ihre Wut beträchtlich reduzieren. Falls sich Ihre Skelettmuskulatur in einer Triggersituation zusammenzieht, können Sie mit Muskelentspannung reagieren. So reduzieren Sie Ihren körperlichen Reflex auf den Trigger und dadurch Ihre misophonischen Emotionen, die mit dem Reflex einhergehen. Übung macht den Meister und lohnt sich.
Bewältigungsstrategie „Keine Gefahr, aber trotzdem danke!“
„Keine Gefahr, aber trotzdem danke!“ ist eine Methode, die vielleicht anfangs ein bisschen albern klingt, aber vielen Personen hilft. Zum besseren Verständnis rufen wir und hier nochmal die Neurologie der Misophonie ins Gedächtnis. Außen haben wir unser denkendes Gehirn. In der Mitte liegt das emotionale Gehirn, das limbische System. Unten befindet sich der Hirnstamm – das vegetative Nervensystem, auch Reptiliengehirn genannt. Der Reflex aus dem Reptiliengehirn ist für die Misophonie verantwortlich. Ihr Reptiliengehirn ist zwar an Ihrer misophonischen Reaktion schuld, es ist aber auch Ihr bester Freund, denn es kontrolliert die automatischen und lebenswichtigen Vorgänge Ihres Körpers. Es kontrolliert unter anderem die Atmung, das Blinzeln, die Körpertemperatur und den Schluckreflex. Der Schreckreflex, den Sie beispielsweise spüren, wenn hinter Ihnen ein Ballon platzt, stammt ebenfalls vom Reptiliengehirn. Dank diesem wichtigen Helfer können Sie sich an Ihre Umwelt anpassen, denn er sagt Ihrem Körper, wie er auf bekannte Situationen reagieren muss. Wenn Ihnen der Kellner einen großen Teller Spaghetti hinstellt, sagt Ihr Reptiliengehirn sofort: „Ich erkenne diese Situation. Um diese Menge Spaghetti zu verdauen, braucht der Körper viel Insulin, also beginnen wir schon mal mit der Produktion.“ Obwohl Sie noch keinen Bissen in den Mund genommen haben, nimmt Ihr Reptiliengehirn den Stimulus (die Spaghetti) wahr und sorgt für die passende körperliche Reaktion. Sehen Sie also Ihre misophonischen Reaktionen als Warnsignale Ihres Reptiliengehirns, das eine Gefahr spürt. Es hört ein Kauen, möchte Sie vor der Gefahr beschützen und lässt Sie daher zusammenschrecken. Unterhalten Sie sich mit Ihrem Reptiliengehirn: „Reptiliengehirn, ich verstehe ja, dass Du mich beschützen willst. Aber was du gerade gehört hast, ist nicht lebensbedrohlich. Trotzdem danke für die Warnung.“ Die kürzere Version lautet wie folgt: „Keine Gefahr, aber trotzdem danke!“ Sie können es sich einfach denken. Tun Sie es mit Hingabe. Bedanken Sie sich ernsthaft bei Ihrem Reptiliengehirn, denn das wird einen positiven Dankbarkeitsreflex in ihm auslösen. Sie erinnern sich sicherlich an etliche positive Situationen, in denen Sie sich bei jemandem bedankt haben. Ihr Reptiliengehirn kombinierte Ihr „Danke“ mit Ihrem körperlichen Wohlbefinden. Wenn Sie sich jetzt bedanken, löst schon allein das Wort das gleiche Wohlbefinden in Ihnen aus. Das ist es, was ich den Dankbarkeitsreflex nenne. Probieren Sie es aus: Sagen Sie ein kräftiges „Danke“ und halten dann inne, um Ihre körperliche Reaktion zu spüren. Dieses kleine Wort kann Ihrem Körper eine wundervolle Ruhe vermitteln, der Dankbarkeitsreflex wird Ihren Wutreflex übertönen und ausschalten.
Eine Frau hinterließ den folgenden Kommentar auf Facebook: „Tom Dozier, ich muss Ihnen etwas gestehen. Nachdem ich die Aufnahme Ihres Misophonie-Seminars 2014 angeschaut hatte, musste ich den Kopf schütteln. Ich dachte mir: „Das ist doch Schwachsinn.“ Nachdem ich bereits 61 bin und ständig zu Wutausbrüchen neige, erwartete ich bereits, dass meine Isolation, ein übermäßig lauter Fernseher und Ohrstöpsel mich bis ins Grab begleiten würden. Doch dann bot sich die Gelegenheit, Ihren Vorschlag mit dem Reptiliengehirn einmal auszuprobieren und ihm zu sagen, dass alles okay wäre. Mein Mann und ich waren auf dem Weg zur Küste und ich dachte mir schon: „Drei lange Stunden mit meinem Mann im Auto, begleitet von ständigem Schniefen und Kartoffelchips essen. Aber was soll’s, ich probiere den Rat von diesem Tom jetzt einfach mal aus.“ Ich konnte es kaum fassen. Es scheint, als ob man auch als Erwachsener durchaus noch dazulernen kann. Sehr zu meiner Überraschung hatte ich dieses Mal nicht das Bedürfnis, aus dem fahrenden Auto zu springen. Auch im Hotel, als mein Mann zu schnarchen anfing, stand ich nach einer Stunde einfach auf und holte mir die Ohrstöpsel, doch ich war längst nicht so wütend wie sonst. Vielen Dank, Tom! Ich kann jedem Betroffenen nur empfehlen, die Sache mal auszuprobieren. Zwar erledigt sich dadurch das Problem nicht völlig, aber wenigstens bringen wir in der Zwischenzeit keinen um.“
Probieren Sie es aus: Wenn Sie Ihren Trigger das nächste Mal hören, denken Sie schnell: „Keine Gefahr, aber trotzdem danke“ und versuchen dadurch, sich von Ihrer Wut zu lösen.
Die innere Einstellung
Natürlich ist Misophonie keine Einbildung, wie viele behaupten, doch es ist eine Störung, die sich sehr wohl in Ihrem Kopf abspielt. Tatsache ist jedoch, dass Ihre Trigger wirklich nur IHRE Trigger sind. Diese Geräusche oder Bilder, die Ihnen so viel Leiden bereiten, sind nicht an sich schlimm und bleiben von den meisten unbemerkt. Die Trigger aktivieren Ihr Reptiliengehirn, das Ihnen regelrecht einen Stromschlag verpasst. Wenn Sie aber daran denken, dass dieses Unbehagen von Ihrem eigenen Gehirn stammt und nicht von einer anderen Person, ist die Erfahrung weniger belastend. Wenn Sie sich Ihren Knöchel verstauchen, tut es Ihnen weh aufzutreten. Aber dieser Schmerz verärgert Sie nicht. Sie wissen, dass der Schmerz von Ihrem eigenen Körper, d.h. von Ihrer Verletzung stammt. Niemand fügt Ihnen diesen Schmerz zu. Das gleiche Prinzip trifft auf Misophonie zu. Wenn Sie Ihre Trigger als Angriffe anderer Personen betrachten, wird Sie das sehr aufwühlen. Ist Ihnen bewusst, dass Sie anders als andere Menschen auf die Außenwelt reagieren, dann können Sie sich darauf konzentrieren, wie Sie auf Ihre Trigger reagieren wollen. Einige produktive Hilfestellungen haben wir in diesem Kapitel schon besprochen: Muskeln entspannen, Kopfhörer verwenden, oder sich zurückziehen. Wenn Sie Trigger als einen Angriff anderer betrachten, geben Sie diesen die Schuld an Ihrem Leiden. Die sollten alle mal lernen, sich besser zu benehmen und Sie nicht ständig triggern – beim Gehen die Füße richtig heben, leiser atmen und so weiter! Diese Einstellung schürt Feindseligkeit. Anstatt sich wie ein Opfer der Angriffe anderer zu sehen, betrachten Sie Ihre Misophonie lieber wie einen verstauchten Knöchel: es tut zwar weh, aber Sie werden damit schon klar kommen. Ich behaupte nicht, dass man allein durch die Einstellung geheilt werden kann oder dass Sie damit keine Probleme mehr haben werden. Der Schweregrad Ihrer Misophonie wird dadurch aber sehr wohl reduziert.
Bewältigungsstrategien und Entgegenkommen am Arbeitsplatz
Viele Länder haben Gesetze, um das Leben von Menschen mit Handicaps u.a. auch an ihrem Arbeitsplatz oder in der Schule zu erleichtern. In Deutschland ist das das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Gemäß diesen Gesetzen müssen Arbeitgeber das Arbeitsumfeld hinreichend anpassen, damit eine qualifizierte Person mit einer Behinderung sich für die Arbeit bewerben und sie durchführen kann. Bestimmte Veränderungen müssen vorgenommen werden, damit diese Person die gleichen Rechte und Privilegien wie ihre Kollegen hat. Ein realistisches Entgegenkommen seitens des Arbeitgebers ist eine wichtige gesetzliche Forderung gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz. Derlei Gesetze geben Ihnen zwar nicht automatisch das Recht, Ihr eigenes Büro zu haben, halten jedoch Ihren Arbeitgeber dazu an, Ihnen ein angemessenes Arbeitsumfeld zu bieten. Es könnte für Sie z. B. nützlich sein, am Arbeitsplatz Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung tragen zu dürfen. Fragen Sie sich einfach: „Könnte eine taube Person diese Arbeit durchführen?“ Wenn ja, dann sollten Sie Ihre Kopfhörer tragen dürfen, auch wenn das laut Firmenpolitik nicht erlaubt ist. Reden Sie mit Ihrem Vorgesetzten oder dem Personalmanagement bezüglich der Bedingungen für die Anerkennung Ihrer Misophonie. Oftmals reicht die Diagnose einer anerkannten Fachkraft. Das Gesetz umfasst keine Liste bestimmter Behinderungen, sondern definiert Behinderung als einen Zustand, der eine oder mehrere grundlegende Lebensaktivitäten schwerwiegend einschränkt. Zu diesen Aktivitäten zählen beispielsweise Lernen, Sprechen, Zuhören, Lesen, Schreiben, Konzentrieren und Selbstversorgung. Und Misophonie beeinträchtigt definitiv Ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren.
Bewältigungsstrategien in der Schule
Auch Schulen müssen per Gesetz (BGG) Kindern mit Behinderungen entgegenkommen. Schüler mit Misophonie können sich das zunutze machen, wenn ihre Störung Ihren Lernprozess einschränkt. Das Gesetz ist für Schüler gedacht, die an einem Zustand leiden, der eine oder mehrere Lebensaktivitäten eingrenzt. Misophonie gehört auf jeden Fall zu dieser Kategorie. Mit den folgenden Maßnahmen können Schulen einem misophonischen Schüler entgegenkommen:
Kein Essen, Trinken oder Kaugummikauen im Unterricht. Wenn anderen Schülern als Konzentrationshilfe Kaugummikauen erlaubt wurde, kann das natürlich ein Problem schaffen.
Der Schüler darf jederzeit das Klassenzimmer verlassen, wenn er zu vielen Triggern ausgesetzt ist. Er muss Zugang zu einem Zufluchtsort haben, wo er sich beruhigen kann.
Der Schüler darf Kopfhörer mit einer Geräusch-App im Unterricht verwenden. Auch wenn er dadurch den Lehrer eventuell nicht immer optimal hören kann, erlaubt ihm diese Maßnahme, dem Unterricht zu folgen.
Der Schüler darf Kopfhörer mit einer Geräusch-App während Prüfungen tragen.
Wenn nötig, darf der Schüler seine Prüfungen in einem triggerfreien Umfeld schreiben.
Der Schüler hat das Recht auf einen bevorzugten Sitzplatz, um weniger Triggern ausgesetzt zu sein.
Der Schüler darf ein Sende-/Empfangsgerät verwenden, das ihm erlaubt, den Lehrer oder Professor in einer Vorlesung über ein Mikrofon ungestört zu hören. Diese Methode wird an vielen Universitäten für schwerhörige Studenten eingesetzt.
In vielen Fällen sind die Schulen sehr kooperativ. Man möchte ja vorzugsweise die Zusammenarbeit auf Hilfsbereitschaft aufbauen, und nicht auf ein Gesetz und der Androhung von gerichtlichen Schritten. Wenn die Lehrkräfte verstehen, weshalb bestimmte Änderungen für den Misophoniker notwendig sind, ist es wahrscheinlicher, dass sie konsequent durchsetzt werden. Das ist oft nicht der Fall, wenn Lehrer uneinsichtig sind und nicht verstehen, warum sie den Unterricht den Bedürfnissen eines bestimmten Schülers anpassen sollen. Schriftliche Genehmigungen sind jedoch manchmal für Examen notwendig.
Extreme Emotionen wie Wut, Ekel oder Verbitterung überwältigen den Misophoniker, evtl. fühlt er sich auch beleidigt und / oder angegriffen. Auch können Hilflosigkeit oder Trostlosigkeit ebenfalls zu diesen starken Gefühlen gehören.
Warum ist es nicht möglich, diese Emotionen zu unterbinden? Für die Misophonie sind nur die unbewussten Teile des Gehirns verantwortlich (das Reptiliengehirn [ auch Hirnstamm genannt] löst den emotionalen Reflex des limbischen Systems aus). Deshalb können Misophoniker ihre Reaktion auf den Trigger genauso wenig kontrollieren wie z.B. einen Schweißausbruch. Auch die äußeren Umstände sind unwichtig – der Triggerstimulus löst die Emotionen jedes Mal aus, wenn unser Reptiliengehirn ihn wahrnimmt.
Was geschieht wenn Sie einem Trigger ausgesetzt sind? Es ist nicht so einfach wie es scheint, denn Misophonie ist ein zweiteiliger Prozess.
Sie sehen oder hören einen Trigger, dieser löst einen körperlichen Reflex in Ihnen aus. Dieser Reflex ist aversiv, unangenehm und ungewollt.
Der körperliche Reflex löst Ihre extremen Emotionen aus, so wie allgemeine physiologische Reaktionen, die von Ihrer emotionalen Erregung stammen. Diese Reaktionen schließen Druck im Brustkorb, Kopf oder gar im ganzen Körper ein, sowie Muskelanspannung, feuchte Hände, Atemnot, hohen Blutdruck und schnellen Puls. Wegen dieser starken Reaktionen wird der Reflex selbst normalerweise nicht wahrgenommen.
Wie die körperlichen Reflexe auf Behandlungen und unterschiedliche Triggerstärken ansprechen, deckt sich mit Forschungsergebnissen zu Reflexen im allgemeinen. Der misophonische Reflex ist also ein angeeigneter, aversiver, körperlicher Reflex, bzw. ein konditionierter oder Pavlov’scher Reflex. Der Begriff „Bewältigungsstrategie“ beschreibt, was Sie tun sollten, wenn Sie einen Trigger wahrnehmen.
Beispiele zur Bewältigung: – sich die Ohren zuhalten – das Geräusch nach-äffen – ihre Triggerperson auffordern, mit dem Geräusch aufzuhören – sich zurückziehen
Der körperliche Reflex
Es scheint so, als ob die extremen Emotionen eine direkte Reaktion auf einen Trigger sind. Die folgende Abbildung illustriert diese Auffassung von Misophonie:
Diese Zeichnung ist aber unvollständig, es fehlt ein entscheidender Zwischenschritt! Der Trigger löst nicht die Emotionen aus, sondern einen körperlichen Reflex. Erst dieser Reflex ruft dann die extremen Emotionen hervor.
Die tatsächliche Ereigniskette sieht also so aus:
Diesen unfreiwilligen Muskelreflex bestätigen über 95%meiner Patienten. Ein Geräusch löst eine bestimmte körperliche Reaktion aus.
Beispielsweise die Muskelanspannung: – des Nackens – der Schultern, – des Brustkorbs – der Arme – des Gesichts – der offenen oder geballten Hand – der Füße – Beine – Zehen oder des Pos.
Manchmal sind die Reflexe auch intern, so wie in der Speiseröhre oder im Magen. Der Misophoniker spürt eventuell Übelkeit, sexuelle Erregung oder Harndrang.
Es gibt eine Vielzahl von Reflexen, und bei einigen sind sogar mehrere Muskeln beteiligt. Ein Patient beschrieb, dass er sich jedes Mal so fühle, als ob er einen Ball fangen würde, der gegen seinen Brustkorb prallt – beide Hände schossen nach oben, seine Ellbogen pressten sich an den Körper. Folgendes Video zeigt eine solche Reaktion. TRIGGERWARNUNG: Im Video ist ein Schniefen zu hören.
Die Individualität der körperlichen Reflexe bestätigt, dass Misophonie keine plötzlich auftauchende genetische Störung ist, sondern dass sie sich aus der Neurologie und den Erfahrungen der jeweiligen Person heraus entwickelt. Einige körperliche Reflexe sind fast nicht wahrnehmbar, z.B. eine ruckartige Bewegung des Kopfes oder ein Augenzucken. Andere hingegen sind sehr stark.
Eine Person sagte, ihr Reflex fühle sich an, als ob sie jemand mit einem Spaten quer durch die Brust aufspieße, eine andere sagte, es sei ein Gefühl als ob jemand ihr eine Nervenfaser aus der Wirbelsäule zöge.
Obwohl es bei 30 – 40 Millionen Misophonikern natürlich Gemeinsamkeiten gibt, findet man wahrscheinlich keine zwei genau übereinstimmenden Beschreibungen.
Der körperliche Reflex ist immer da, wird wegen der extrem starken Emotionen aber normalerweise nicht wahrgenommen, weil diese sozusagen über allen anderen Empfindungen liegen.
Bei einer meiner Patientinnen konnten ihre Mutter und ich ein Achselzucken sehen, während sie selbst nichts davon spürte.
Bei einem anderen Patienten war es ein Zucken im Bein, bei wieder einem anderen ein Stirnrunzeln. Auch sie spürten ihren Reflex erst nach langem Suchen.
Es ist wie ein Doppelschlag beim Boxen: erst der kaum spürbare körperliche Reflex und sofort danach die überwältigenden Emotionen, oder die Flucht-oder-Kampf-Reaktion. Die körperliche Reaktion ist viel schwächer als die emotionale und deshalb sehr schwer wahrzunehmen.
Wenn Sie ihren körperlichen Reflex genau bestimmen wollen, brauchen sie dazu einen schwachen Trigger – kurz und leise, also eine halbe Sekunde oder weniger, und fast unhörbar, am besten als Aufnahme. Der Trigger soll so leise sein, dass er zwar den Reflex, aber keine negative misophonische Reaktion auslöst. So können Sie bewusst Ihren Reflex wahrnehmen. Zum Aufnehmen und Abspielen können Sie z.B. meine kostenlose „Misophonia Reflex Finder App“ verwenden, mit ihr lassen sich auch Dauer und Lautstärke genau einstellen.
Die Identifizierung des Triggermuskels kann ein wichtiger Schritt sein zu einer dauerhaften Auflösung der misophonischen Reaktion.
Reflexe
Unser Hirnstamm (ach Reptiliengehirn genannt) kontrolliert unsere Reflexe. Wenn es einen Stimulus wahrnimmt, löst es eine sofortige physiologische Reaktion aus. Der Stimulus kann intern sein: ein erhöhter Kohlendioxidspiegel im Blut veranlasst uns, schneller zu atmen. Der Stimulus kann auch extern sein: wir schrecken aufgrund eines lauten Geräusches zusammen.
Sie können Ihre Reflexe nicht kontrollieren. So bestimmen Sie beispielsweise nicht, ob Sie schwitzen wollen oder nicht. Wenn Sie hellem Licht ausgesetzt sind, ziehen sich Ihre Pupillen ganz automatisch zusammen. Ihr Verdauungssystem, Ihr Herzschlag und Ihr Schreckreflex werden ebenfalls ohne Ihre bewusste Entscheidung vom Reptiliengehirn kontrolliert.
Einige Ihrer Reflexe sind angeboren, während andere im Laufe des Lebens entstehen. Diese Entwicklung heißt klassische oder Pavlov’sche Konditionierung und beginnt sofort nach Ihrer Geburt. 1901 führte Pavlov eine Studie mit Hunden durch, um deren Verdauung und Speichelfluss zu erforschen. Eines der Experimente diente dazu, die produzierte Speichelmenge der Hunde abhängig von der jeweiligen Fleischmenge, die sie fraßen, zu messen. Dabei entdeckte er, dass die Hunde schon Speichel produzierten, bevor sie das Fleisch fraßen. Das brachte ihn auf die Idee, herauszufinden, ob er den Speichelfluss der Hunde auch mit einem Glöckchen auslösen könne.
Bevor er den Hunden das Fleisch gab, das ihren Speichelfluss auslöste, klingelte er mit dem Glöckchen. Er wiederholte den Ablauf: Klingeln-Fleischgabe-Speichelfluss, Klingeln-Fleischgabe-Speichelfluss. Dann ließ er das Fleisch weg und die Hunde produzierten dennoch Speichel. Das Gehirn hatte das Klingeln mit dem Speichelfluss verbunden, denn es wusste, dass das Fleisch folgen würde. Nachdem sich der Ablauf mehrmals wiederholt hatte, lernte das Reptiliengehirn, dass der Ton signalisierte, dass Speichel benötigt wurde. So verknüpfte das Reptiliengehirn den Stimulus (das Klingeln) mit der Reaktion (Speichelproduktion). Über Jahre hinweg glaubten Forscher, dass sich der Reflex entwickelt habe, weil das Klingeln mit der Fleischgabe verbunden werde, aber neueste Studien zeigen, dass es wie beschrieben mit dem Speichelfluss gekoppelt ist.
Wichtig zum Verständnis der Misophonie ist, dass wir den konditionierten Reflex als eine Verbindung zwischen dem Stimulus und der körperlichen Reaktion betrachten. Als ich damit begann, Misophonie und die Entwicklung des misophonischen Reflexes zu untersuchen, stellte ich fest, dass es keinen unkonditionierten Stimulus gibt (so wie Fleisch, das das Speicheln der Hunde auslöst). Es gibt jedoch eine Verknüpfung des Triggerstimulus mit dem ersten misophonischen körperlichen Reflex, und dieser ist dem Betroffenen normalerweise völlig unbewusst.
Ein konditionierter Reflex entwickelt sich, wenn zwischen den beiden Stimuli nicht mehr als zwei Sekunden, am besten nur eine halbe, liegen. Wenn ich z.B. mit einer kleinen Glocke als Stimulus klingele und Sie eine halbe Sekunde danach in die Seite stupse (2. Stimulus), und diesen Vorgang einige Male wiederhole, würden Sie schließlich dem Klingeln zusammenschrecken, auch wenn ich Sie nicht stupse. Konditionierte Reflexe verlieren sich wieder, wenn die Reaktion nicht mehr provoziert oder erzwungen wird. Bei den Pawlov´schen Hunden verliert sich der Reflex (das Speicheln nach dem Klingeln), wenn über einen längeren Zeitraum kein Fleisch nachgeliefert wird.
Bei Misophonie hören die Reflexe jedoch nicht auf. Offensichtlich verstärkt sich der misophonisch-konditionierte Reflex, wenn ein Trigger wahrgenommen wird. Wenn Sie einen Trigger hören (z.B. Kaugeräusche) wird der Reflex ausgelöst. Danach erfolgt der emotionale Schub, durch den sich die Muskelanspannung noch weiter erhöht. Ihr Reptiliengehirn verbindet jetzt das Geräusch mit einer starken Muskelanspannung und glaubt, beim nächsten Trigger den Muskel noch stärker anspannen zu müssen. Dieser starke emotionale Schub nach dem Trigger scheint dafür verantwortlich zu sein, dass der Reflex sich bei jedem Trigger verfestigt, anstatt nachzulassen.
Misophonie und schmerzinduzierte Aggression
Es wird Ihnen leichter fallen, Ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, wenn Sie Misophonie als einen körperlichen Reflex betrachten. Bislang wurde Ihnen gesagt, Sie sollten sich einfach beruhigen, und ihre Mitmenschen waren vielleicht sogar der Meinung, dass Sie sich alles nur einbilden. Sicherlich waren Sie unglaublich wütend auf ihre Triggerpersonen, obwohl das eigentlich wider Ihre Natur ist. Möglicherweise wollten Sie sie sogar verletzen oder sagten und taten Dinge, die Sie hinterher bereuten. Aber Misophoniker haben keine Wahl. Ohne Behandlung empfinden sie den Reflex als einen Angriff. Das bilden Sie sich nicht einfach ein – sie werden tatsächlich von Ihrem Reptiliengehirn angegriffen. Es nimmt das Geräusch wahr, sendet einen elektrischen Impuls, und dieser löst eine unkontrollierbare Wut aus.
Eine an Mäusen in elektrisch geladenen Käfigen durchgeführte Studie verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem elektrischen Impuls und der misophonischen Wut, welche diese Angriffslust provoziert. (Ich möchte anmerken, dass ich diese Studie nicht durchgeführt habe und Tierversuche nicht befürworte.) Mäuse, die einen elektrischen Schlag abbekamen, griffen die nächstbeste Maus an, obwohl diese ihnen nichts getan hatte. Wir nennen das schmerzinduzierte Aggression. Das Gleiche geschieht bei Misophonikern – der elektrische Impuls löst ihre aggressiven Emotionen aus. Diese sind so extrem, dass sie den eigentlichen Impuls gar nicht bemerken, doch er existiert und er ist es, der ihre misophonischen Gefühle auslöst.
Erfahrungsberichte zum Muskelreflex
Carla’s Geschichte
Wenn die 10-jährige Carla ihren primären Trigger – die Kaugeräusche ihres Bruders – hörte, wurde sie sofort wütend, konnte aber keine körperliche Reaktion wahrnehmen. Carla und ihr Bruder stritten sich oft am Esstisch und ihre Mutter berichtete, dass Carla dann mit ausgestreckten Armen aufstand (ihre Arm- und Beinmuskeln waren also angespannt) und von ihrem Bruder verlangte, dass er sie nicht so anstarren solle. In dieser Situation hörte sie ihren Bruder schmatzen. In der Klinik löste eine leise Aufnahme ihres Triggers ein sichtbares Zucken in ihren Armen und Schultern aus. Sie spürte zwar die Muskelanspannung, aber keine oder nur sehr geringe Anflüge von Wut und Ekel. Anscheinend löste der Trigger die gleiche Muskelanspannung aus wie das Streiten mit ihrem Bruder. Dies belegt die Hypothese, dass sich Misophonie als ein Pavlov’scher konditionierter Reflex entwickelt, und dass die erste Reaktion auf einen Triggerstimulus ein körperlicher Reflex ist.
Connor’s Geschichte
Als Connor, 24, seine Behandlung begann, waren Kauen, Niesen, Atmen durch den Mund und Schmatzen seine starken Audio-Trigger. Es gab auch einen visuellen Trigger, wenn nämlich jemand seine Brille anfasste. Seine Misophonie hatte sich zwei Jahren zuvor während seines Einsatzes als Marinesoldat in Afghanistan entwickelt. Nach seiner Heimkehr wurde bei ihm außerdem eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. In Afghanistan war es Teil seines Alltags, mit seinem Team auf Patrouille zu gehen, und nach der Rückkehr zur Basis auf engstem Raum mit den anderen zu essen.
Tests ergaben, dass er seine Faust ballte und seinen Kopf nach rechts drehte, egal von wo das Triggergeräusch kam. Sein Reflex ähnelte einer Reaktion auf eine Gefahr, die sich von rechts nähert. Die misophonischen Trigger lösten jedoch keine PTBS-Reaktionen aus.
Bill’s Geschichte
Bill war als 30-jähriger bei guter Gesundheit und hatte sein Leben lang keine psychischen Probleme. Bis Spottdrosseln ihr Nest vor seinem Schlafzimmerfenster bauten. Das Zwitschern der Vögel bei Tag und Nacht raubte ihm den Schlaf und er entwickelte eine misophonische Reaktion auf die fünf verschiedenen Rufe der Spottdrossel. Inzwischen sind als neue Trigger andere Vogelrufe hinzugekommen, wobei seine Reaktion auf diese weniger stark ist. Wenn Bill seinen Trigger hört, bekommt er eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen und seine Kopfhaut fängt an zu kribbeln.
Paul’s Geschichte
Paul ist ein völlig gesunder Berufstätiger mittleren Alters. Er nahm eine neue Arbeit an, bei der er oft Anrufe von Menschen entgegennehmen musste, die seine Hilfe brauchten. Er entwickelte schließlich eine Muskelanspannung in der Brust, wenn er den Standardklingelton seines Handys hörte. Es ist anzunehmen, dass die Muskelanspannung die physische Reaktion auf seine Emotionen war, die vom Stress durch die ständigen Anrufe ausgelöst wurden. Er änderte seinen Klingelton, doch nach einiger Zeit spürte er auch bei dem neuen Ton die gleiche Muskelanspannung in der Brust. Er änderte den Klingelton mehrere Male, doch das half nicht.
Schließlich schaltete er sein Handy auf Vibration, aber es dauerte nicht lange, bis er auch darauf reagierte. Als sogar das Klingeln eines Telefons im Fernsehen als Auslöser wirkte, wurde ihm klar, dass das Klingelgeräusch sein Trigger war.
Paul erklärte: “Ich höre das Klingeln, meine Brustmuskeln zucken, und es gefällt mir nicht!“ Ihm missfiel zwar sein körperlicher Reflex, aber er spürte keine der Emotionen, die normalerweise mit den problematischen Anrufen einhergingen. Er beeinträchtigte keineswegs seine Arbeitsleistung, war aber ein aversiver Reflex auf ein übliches Geräusch. Jeglicher aversive Muskelanspannungsreflex auf einen Auslöser kann als misophonischer Reflex bezeichnet werden.
Um zu verstehen, was Misophonie eigentlich ist, ist es zunächst wichtig zu wissen, was sie NICHT ist. Misophonie ist keine Überempfindlichkeit gegenüber Lautstärke, wie sie z.B. bei Kleinkindern häufig auftritt. Dies ist eine Hyperakusis, die oft schon in der Kindheit beginnt, und sich im weiteren Leben fortsetzt. Manchmal entwickelt sie sich allerdings auch erst im Erwachsenenalter. Ein Audiologe kann testen, ab welcher Lautstärke Geräusche als schmerzhaft empfunden werden und bestimmte Behandlungen empfehlen, die die Beschwerden lindern. Misophonie ist auch etwas anderes als Phonophobie. Dies ist die Angst vor bestimmten Geräuschen (z.B. Toilettenspülung, Staubsauger). Diese Störung tritt ebenfalls oft schon bei Kleinkindern auf, außerdem bei autistischen Kindern, und hat nichts mit Misophonie zu tun. Auch die „Störung der Sinnesverarbeitung“ (SPD – Sensory Processing Disorder) hat absolut nichts mit Misophonie zu tun. Diese Störung äußert sich durch signifikante Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von sensorischem Input, beispielsweise Tasten, Schmecken, Riechen, Sehen und Hören. Ein Kind, das darunter leidet, zeigt eine Intoleranz gegenüber lauten Geräuschen – oftmals wird in solchen Fällen fälschlicherweise Hyperakusis oder Phonophobie diagnostiziert. Misophonie ist nicht die simple Irritation, die jemand aufgrund von lauten, kontinuierlichen, irritierenden oder aufdringlichen Geräuschen empfindet, und sollte auch nicht mit Hochsensibilität verwechselt werden. Hochsensible Personen haben eine geringe Toleranz gegenüber unangenehmen oder irritierenden Situationen. Nehmen wir zum Beispiel jemanden, der in der Nähe eines Flughafens wohnt und extrem emotional auf den Fluglärm reagiert. Er leidet wahrscheinlich unter Misophonie, wenn schon ein einziges Flugzeug diese Reaktion triggert. Wenn aber hauptsächlich das erste Flugzeug am frühen Morgen die negative Reaktion hervorruft, dann ist er eher hochsensibel. Er ärgert sich, weil er weiß, dass er dem Lärm den ganzen Tag ausgesetzt sein wird. Dadurch fühlt er sich völlig verzweifelt. Diese extremen Gefühlsregungen ähneln denen der Misophonie – von dieser sprechen wir aber nur dann, wenn eine Person auf das einzelne Vorkommen eines Triggers sofort mit Irritation, Wut oder Ekel reagiert. Eine hochsensible Person kann gleichzeitig auch an Misophonie leiden. Aufgrund ihrer Hochsensibilität kann sie vielleicht einige irritierende Geräusche nicht ausstehen und hat zusätzlich noch misophonische Trigger.
Es ist auch nicht unbedingt Misophonie, wenn Sie die folgenden Geräusche als störend empfinden:
Nägelkratzen auf einer Schultafel,
ein schreiendes Baby,
ein Messer kratzt auf Glas,
ein Winkelschleifer (Flex) oder
eine kreischende Frau.
Sie gehören zu den Top 10 der irritierendsten Geräusche und es wird vermutet, dass wir genetisch dazu veranlagt sind, auf sie zu reagieren.
Was ist Misophonie?
Der Begriff „Misophonie“ setzt sich aus den griechischen Wörtern „Miso“ (Hass) und „Phonia“ (Geräusche) zusammen und bedeutet wörtlich „Hass auf Geräusche“. Diese Störung, charakterisiert durch extreme emotionale Reaktionen auf normale Geräusche, wurde 2001 von den Neurowissenschaftlern Dr. Pawel und Dr. Margaret Jastreboff benannt. Im Jahre 1997 identifizierte die Audiologin Marsha Johnson diese Störung zum ersten Mal und nannte sie „Selektive Geräuschintoleranz – Selective Sound Sensitivity Syndrome“, oder als Kurzform „4S“. Diese Bezeichnung ist zwar viel treffender, da die Intoleranz nur bestimmte, d.h. selektive Geräusche umfasst, aber mittlerweile ist der Begriff „Misophonie“ bekannter und schließt auch visuelle Trigger mit ein.
Ein Misophoniker reagiert sofort auf den Triggerstimulus, der entweder hörbar oder sichtbar ist. Diese Reaktion ist ein Reflex, also unmittelbar und unfreiwillig. Die Trigger sind häufig leise, normale Geräusche, die Nicht-Misophoniker oft gar nicht wahrnehmen. Wenn jedoch ein Misophoniker zusammen mit jemandem im Zimmer ist, der auf seinem Kaugummi herumkaut, wird er das hören und sofort darauf reagieren. Misophonie ist immer mit starken Gefühlen verbunden, üblicherweise Hass, Wut, Ekel, Verbitterung. Unter Umständen fühlt sich die betroffene Person sogar angegriffen. Misophoniker wollen dem Geräusch um jeden Preis entkommen. Oft greifen sie ihre Triggerperson in Gedanken körperlich oder verbal an. Die wenigsten setzen diese Gedanken jedoch in die Tat um.
Fehldiagnosen
Viele Misophoniker leiden aufgrund von Fehldiagnosen. Diese sind fast unvermeidlich, denn bisher ist Misophonie in medizinischen und psychologischen Kreisen nahezu völlig unbekannt. Ich fragte Mitglieder einer Online-Selbsthilfgruppe für Misophoniker, welche Diagnosen bei ihnen gestellt wurden. Oft genannt wurden: Jähzorn, Trotzverhalten, affektive Störung, Hyperakusis, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung), bipolare Störung, paranoide Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung, Angst, Autismus, Nervenstörung, Sinnesverarbeitungsstörung, Hochsensibilität, Phobie, typisches Mutter-Kind-Drama, Migräne, Krampfanfälle, PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) und Depressionen. Wenn einem Arzt Misophonie unbekannt ist, wird er natürlich eine Fehldiagnose stellen. „Ich weiß nicht, was Ihnen fehlt“ wäre für den Betroffenen besser, besonders, weil die Therapien, die auf eine Fehldiagnose folgen, oft nicht nur nutzlos sind, sondern den Zustand sogar noch verschlimmern. Vielen Betroffenen wird gesagt, dass alles mit ihnen in Ordnung sei. Andere werden als verwöhnt, verrückt, überempfindlich und arrogant abgestempelt, oder ihnen wird vorgeworfen, dass man ihnen einfach nichts recht machen könne. Vielen wird geraten, die Geräusche einfach zu ignorieren; es sei ja schließlich alles Einbildung. Misophonie ruft extreme negative Emotionen hervor, und diese führen häufig zu unangebrachtem Verhalten gegenüber anderen Menschen, besonders nahestehenden. Beides, sowohl die Emotionen als auch die darauffolgenden Handlungen, führt oft zu Schuld- und Schamgefühlen. Diese verschlimmern sich selbstverständlich noch, wenn dem Misophoniker auch von außen vorgeworfen wird, dass alles seine Schuld sei.
Wer hat Schuld? Die Kriminalisierung des Umfeldes
Wenn ein Misophoniker auf das Kaugeräusch einer ganz bestimmten Person mit Wut reagiert, liegt der Schluss nahe, dass die Wut gegen diese Person gerichtet ist. Dann liegt der Verdacht nicht fern, dass ein traumatisches Erlebnis mit dieser Person der Grund für die Wut ist. Sogar Psychologen wagen, ihre aus der Luft gegriffenen Vermutungen im Internet kund zutun: „Aus meiner Sicht hat die Misophonie psychologische Ursachen. Anders könne sie sich nicht erklären, dass Patienten Kaugeräusche einer bestimmten Person unerträglich finden, während sie das Schmatzen einer anderen Person überhaupt nicht stört. Es gehe immer auch um die Frage: Welche Bedeutung hat das Geräusch für mich?“ Sogar sexueller Missbrauch wird als mögliche Ursache genannt. Diese Annahmen wurden schon lange durch hinreichende Untersuchungen widerlegt. Bei der Auswertung von hunderten von Fällen lässt sich eine Art Standard-Szenario für das Entstehen von Misophonie erkennen: Ein Kind, meist im Alter von 8 bis 12 Jahren, steht wegen unterschiedlichsten Gründen unter allgemeinem Stress (Schulnoten, Mobbing, Streit etc.) und sitzt mit der Familie am Esstisch. Ihm wird ein sich wiederholendes Geräusch (Kauen, Schniefen, das Ticken einer Uhr) unangenehm bewusst, es möchte oder darf den Esstisch aber nicht verlassen. Fortan ist genau dieses Geräusch dann Auslöser für die misophonische Reaktion. Es wird immer wieder deutlich, dass die Kopplung von Geräusch und Reaktion keine kausale Verkettung ist. Es reagieren so viele Kinder auf die Kaugeräusche ihrer Eltern, weil die Esstisch-Situation das Szenario ist, in denen gestresste Kinder, sich wiederholende Geräusche und die schwierige Fluchtmöglichkeit am häufigsten anzutreffen ist. Gegen die kausale Verkettung sprechen auch die ‚technischen‘ Trigger wie das Ticken einer Uhr. Eine Uhr ist über jeden Verdacht erhaben, ein Kind misshandelt oder missbraucht zu haben. Insofern können die Eltern von Glück reden, wenn ihr misophonisches Kind ein Uhrenticken als Trigger hat und nicht ihr Kau- oder Atemgeräusch. Sie müssen sich zumindest nicht mit den Gedanken plagen, was in aller Welt sie ihrem Kind wohl angetan haben könnten, dass es so wütend und angeekelt auf sie reagiert. Hier einige Erfahrungsberichte aus dem Buch Misophonie verstehen und überwinden von Thomas Dozier: Anfangs nahm ich an, dass traumatische Erlebnisse zu Misophonie führen. Die erwies sich aber als falsch, denn die ersten Erfahrungen mit Triggern werden als sehr unspektakulär beschrieben: Eine Patientin sagte folgendes: „Ich saß in der Kirche neben meiner Großmutter und sie schniefte und schniefte. Das war mein erster Trigger.“
Johns Geschichte
John litt als Kind an Angstattacken, die ihm manchmal den Schlaf raubten. Er teilte ein Zimmer mit seinem Bruder, der wegen seiner Allergien laut durch die Nase atmete. Eines Nachts lag John stundenlang wach, hörte diesem Atmen zu und stand schließlich auf, als er es nicht mehr ertragen konnte. Er schlief dann auf der Couch. Seit jener Nacht ist das Atmen seines Bruders sein Trigger. Bei einer solchen Erfahrung, wenn also ein Stimulus (ein Geräusch) einen Reflex auslöst, handelt es sich um eine Pavlov’sche oder klassische Konditionierung. Das laute Atmen des Bruders wurde mit der physiologischen Reaktion von Johns Unbehagens (d.h. der Muskelanspannung) gekoppelt, sowie mit dem emotionalen Leiden, das von seiner Angst und Schlaflosigkeit stammte. Die Atemgeräusche seines Bruders lösten nach dieser Nacht eine konditionierte körperliche und/oder emotionale Reaktion aus. Es scheint so zu sei, dass der Trigger mehr mit dem körperlichen Reflex als mit der emotionalen Reaktion verbunden wird.
Misophonie – Misophonie eine wenig bekannte, aber dennoch weit verbreitete Störung
Viele halten Misophonie für eine seltene Krankheit. Dabei ist sie das keineswegs. Über SurveyMonkey.com erhielt ich Umfrageresultate von zufällig ausgesuchten Personen, die absolut nichts mit Misophonie zu tun hatten und nur an Umfragen teilnahmen, um eine Wohlfahrtsorganisation ihrer Wahl zu unterstützen. Der Titel der Umfrage erwähnte weder Geräusche, noch Geräuschempfindlichkeit. Von 310 Personen (50% Frauen, 50% Männer) wiesen 15.2% Reaktionen auf, die auf Misophonie hindeuteten. Frauen (18.6%) waren häufiger betroffen als Männer (11.6%). Eine Krankheit wird als selten eingestuft, wenn höchstens eine von 1500 Personen (0,07%) an ihr leidet. Die Umfrage zeigte, dass etwa 225 von 1500 Personen an Misophonie litten, daher kann sie absolut nicht als „seltene Krankheit“ eingestuft werden. Sie ist eine wenig bekannte, aber dennoch weit verbreitete Störung. Das Ergebnis lag mit 15% weit höher als ich erwartet hatte, wurde aber durch andere Studien bestätigt. 2014 erschien eine offizielle, durch Fachleute geprüfte Studie, die in der Psychologieabteilung des „South Florida’s College of Medicine“ durchgeführt wurde. An Universitäten ist es üblich, Psychologiestudenten an Umfragen oder anderen Formen von Nachforschung teilnehmen zu lassen. Fast 500 Studenten (84% weiblich, 16% männlich) nahmen an der Studie teil. Die Studie war umfassend genug, um feststellen zu können, wie Misophonie sich auf das Leben der Betroffenen auswirkt. Das Ergebnis war, dass 20% der Teilnehmer eine klinisch bedeutsame Misophonie aufwiesen. „Klinisch bedeutsam“ heißt, dass ihre Trigger ihr Leben stark beeinflussten. 20% schien im Vergleich zu meinen früheren Beobachtungen zuerst ein überraschend hohes Ergebnis zu sein. Es war allerdings zu bedenken, dass 84% der Teilnehmer ja weiblich waren, und so passte das Ergebnis dieser Studie zu dem meiner vorherigen Umfrage, die gezeigt hatte, dass 18.6% aller Frauen misophonische Trigger hatten. Auf der Website der Firma 23andMe.com, die private DNA-Untersuchungen macht, wurde vor Kurzem in einem Blog eine interne Studie erwähnt, die mit 80.000 Kunden durchgeführt wurde. Die zu beantwortende Frage lautete: „Machen die Kaugeräusche anderer Sie wütend?“ (Ja/nein/ich bin mir nicht sicher.) Ungefähr 20%, meistens Frauen, antworteten mit „ja“. Wie wir diesen Umfragen entnehmen können, ist Misophonie recht weit verbreitet und betrifft mindestens 15% aller Erwachsenen, wobei die meisten davon Frauen sind. Unglaublich viele Personen leiden still vor sich hin und werden als mürrisch, launenhaft oder reizbar abgestempelt. Gemäß diesen Zahlen, die derzeit durch Untersuchungen nach und nach bestätigt werden, leiden vermutlich allein in den USA über 40 Millionen Menschen an Misophonie. Wenn Sie willkürlich einen Arzt oder Therapeuten aufsuchen, und dann eine Person aus einer Menschenmenge herausgreifen, ist es wahrscheinlicher, dass die zufällig ausgesuchte Person an Misophonie leidet, als dass der Arzt oder Therapeut diese Störung kennt.
Statistik: In welchem Alter beginnt die Misophonie?
Misophonie äußert sich nicht bei jedem auf dieselbe Weise. Zwar kommen bestimmte Trigger (Essgeräusche) und emotionale Reaktionen (Wut, Hass und Ekel) häufig vor und oftmals nimmt die Misophonie ihren Anfang im Kindesalter (6-12 Jahre) und verschlimmert sich während der Pubertät. Aber die Misophonie hat viele Gesichter.
Im März 2013 führte ich eine Umfrage mit fast 200 Misophonikern durch, von denen 75% der Teilnehmer Frauen waren. Bei 25% der Betroffenen hatte sich die Misophonie erstmals im Alter zwischen 9 und 10 Jahren gezeigt, bei 21% zwischen 7 und 8 Jahren, und bei 20% mit 11 bis 12 Jahren. Diese Altersgruppen scheinen also typisch für den Beginn der Misophonie zu sein. Es gab aber auch Teilnehmer, die erst 4 oder schon 55 Jahre alt waren, als sich die Störung zu manifestieren begann. Bei einigen verschlimmerte sich ihre Misophonie bereits mit 4 Jahren, bei anderen erst mit 64. In der folgenden Grafik stellen die dunklen Balken das Alter dar, in dem die Misophonie zuerst auftrat, die helleren das Alter, in dem sie sich verschlimmerte.
Jeder Misophoniker hat seine persönlichen Trigger, die eine zentrale Rolle in seinem Leben spielen. Ein Trigger ist etwas, was er hört oder sieht, beispielsweise wenn jemand kaut, beim Reden leicht mit den Lippen schmatzt, oder pfeift. Geräusche wie diese reizen einen Misophoniker, und die anfängliche Irritation verwandelt sich schnell in extreme Wut, Hass oder Ekel. Diese Reaktionen sind unfreiwillig und es ist dem Misophoniker nicht möglich, Ruhe zu bewahren. Die sofortige negative Reaktion auf einen Trigger ist das Kennzeichen der Misophonie. Zu diesen Emotionen kommen physiologische Reaktionen hinzu: Muskelanspannung, beschleunigter Herzschlag, Schwitzen oder extreme Stressgefühle. Selbst wenn der Trigger aufhört, bleibt der emotionale Aufruhr, und oft spielt sich das Triggergeräusch auch noch danach wiederholt im Kopf ab. Während ein Trigger den Misophoniker in einem einzigen Augenblick von 0 auf 100 bringen kann, dauert es unter Umständen Stunden, bis er sich wieder beruhigt.
Die Auswirkungen von Misophonie reichen von „fast nicht bemerkbar“ bis zu „extrem einschränkend“. Ich habe einmal einen Mann kennengelernt, der nur einen einzigen Trigger hatte, nämlich das Klimpern des Löffels beim Umrühren von Eistee. Er kann dieses Geräusch nicht verkraften, aber da niemand in seiner Familie Eistee trinkt, hört er den Trigger fast nie, und daher wirkt sich seine Misophonie auch kaum auf sein Leben aus. Eine junge Frau, die ich kenne, hat ebenfalls nur einen Trigger, doch dieser ruiniert ihr Leben. Ihr Trigger: das Geräusch von zwei oder mehreren Frauen, die sich unterhalten. Da sie eine fast ausschließlich weibliche Fachrichtung studiert, ist sie dauernd ihrem Trigger ausgesetzt – ihr Studium ist die Hölle.
Die Entstehung von Misophonie-Triggern
Misophonie-Trigger entstehen meist in ganz normalen Alltagssituationen im familiären Umfeld. In einer Umfrage aus dem Jahr 2013 sagten zwei Drittel der befragten Misophoniker, dass Kau- oder Essgeräusche ihre schlimmsten Trigger seien. 10% nannten Atemgeräusche als ihren Haupttrigger. Bei den übrigen 25% sind es die unterschiedlichsten Auslöser, wie z. B. Bassgeräusche durch die Wand, ein bellender Hund, Husten, das Klicken eines Kugelschreibers, Pfeifen, das Reden der Eltern, das Zischen in Wörtern wie „Ross“ oder „Chips“ und Tastaturgeräusche. Diese Liste ist keineswegs vollständig, denn jegliche sich wiederholenden Geräusche oder visuellen Eindrücke, und in seltenen Fällen sogar etwas, was man fühlt, riecht oder spürt, können zu Triggern werden. Ob ein Geräusch zum Trigger wird, liegt nicht an dem Geräusch an sich, sondern an den Umständen unter denen es wahrgenommen wird. Zu Anfang wirkt nur ein einziges Geräusch, das vielleicht sogar nur von einer einzigen Person stammt, als Trigger. Nach und nach weitet er sich auf ähnliche Laute, andere Umgebungen, schließlich alle Personen, die das bestimmte Geräusch machen und visuelle Eindrücke, die der Misophoniker mit dem Geräusch verbindet, aus. Misophonie kann auch mit einem visuellen Trigger beginnen, was aber eher selten vorkommt. Gewöhnlich beginnt alles mit einem Triggergeräusch, nach und nach können dann auch visuelle Eindrücke, die mit dem Trigger zusammenhängen, misophonische Reaktionen auslösen. Wenn beispielsweise Kaugeräusche Trigger sind, dann kann schon die Beobachtung triggern, wenn jemand Essen zum Mund führt oder nach den Kartoffelchips greift. Visuelle Eindrücke, die eng mit einem Trigger verbunden sind, können auch allein (also ohne das dazugehörende Geräusch) eine misophonische Reaktion auslösen. Nehmen wir einen Misophoniker, dessen Trigger schmatzendes Kaugummikauen ist. Wenn er Kieferbewegungen sieht, verknüpft er dieses Bild unbewusst mit Kauen, was er wiederum mit Kaugummikauen verbindet, und schon wird die Kieferbewegung zu einem visuellen Trigger.
Welche Geräusche werden zu Triggern?
Es gibt eine große Bandbreite von Triggern. Obwohl Kau- und Atemgeräusche besonders häufig vorkommen, kann auch jedes andere sich wiederholende Geräusch zum Trigger werden. Niemand hat sämtliche Trigger. Jeder Misophoniker hat seine eigene Kombination. Der erste Trigger eines Misophonikers stammt immer von einer ganz bestimmten Person oder aus einem bestimmten Bereich seines Lebens. Es können Vogelgezwitscher, Grillenzirpen, klopfende Rohre, bestimmte Worte, die Geräusche von technischen Geräten u.ä. sein. Häufig sind es Essgeräusche, z.B. wenn jemand Popcorn isst oder (sehr häufig) das Platzen von Kaugummiblasen. Für manche Misophoniker ist ein Geräusch nur dann ein Trigger, wenn eine bestimmte Person sie macht. Einer meiner Patienten war ein 15-jähriger Junge, der misophonische Reaktionen hatte, wenn seine Mutter etwas Knuspriges aß. Ich stellte ihn mit dem Gesicht zur Wand und steckte mir Kartoffelchips in den Mund. Keine Reaktion. Seine Mutter tat das Gleiche und er reagierte sofort mit: „Igitt! Das ist es!“ Dahingegen gibt es andere, die immer auf dieselbe Art von Geräusch reagieren, egal von wem es stammt. Ich hatte eine Frau in Behandlung, deren Trigger ihr Ehemann war, wenn er „äh“ sagte. Dieser einsilbige Laut löste in niemandem sonst eine Reaktion aus, und es störte sie auch nicht, wenn andere ihn machten. Es war ihr ganz persönlicher Trigger. Eine andere Frau konnte es nicht aushalten, wenn ihr Mann knuspriges Brot aß. Für einige Kinder ist die Stimme eines Elternteils ihr Trigger, aber nicht Stimmen im Allgemeinen. Ich kenne einen Mann in den 40ern, vor dessen Fenster Vögel ihr Nest bauten. Es handelte sich um Spottdrosseln, die 24 Stunden am Tag zwitschern, und das taten sie nun direkt vor seinem Schlafzimmerfenster. Dieser Vogelgesang entwickelte sich zu seinem Trigger. Die meisten Misophoniker haben Trigger, die von Menschen erzeugt werden. Einige reagieren aber auch auf Geräusche von Dingen, wie z.B. klopfende Rohre, tickende Uhren, Haartrockner, elektrische Rasierapparate. Trigger basieren auf den eigenen, einzigartigen Erfahrung mit Geräuschen. Der Grund für die vielen übereinstimmenden („typischen“) Trigger ist, dass wir viele Erfahrungen und Aktivitäten gemeinsam haben. Wir essen oft gemeinsam mit anderen Menschen, hören andere atmen, und wenn wir mit einem Allergiker zusammen wohnen, gehören die mit einer gereizten Nasenschleimhaut verbundenen Geräusche zum Alltag. Diese Erfahrungen führen zu häufig vorkommenden Triggern, schließen aber nicht die Entwicklung seltenerer individueller Trigger aus.
Die Ausbreitung von Misophonie-Triggern
Stellen Sie sich vor, Ihr Trigger wären Kaugeräusche. Nun sitzen Sie also am Esstisch, hören jemanden kauen und bemerken gleichzeitig das Kratzen der Gabeln auf den Tellern. Dieses Kratzen kann Ihr nächster Trigger werden. Oder Sie reagieren zunächst nur auf das Kauen, hören aber gleichzeitig, wie jemand schnieft. Nun lösen plötzlich beide Geräusche eine misophonische Reaktion bei Ihnen aus. Ein anderes Szenario wäre, dass nur das Kaugeräusch einer bestimmten Person Ihr Trigger ist, doch dann bemerken Sie die Essgeräusche der anderen Personen am Tisch. Sie könnten zunächst auf alle Geräusche dieser Personen reagieren, und schließlich von jeder beliebigen kauenden Person getriggert werden. Wenn ein Geräusch gleichzeitig mit Ihrem Triggergeräusch auftritt, oder auch nur in dem Moment, in dem Sie noch durch Ihren Trigger verärgert sind, kann dieses neutrale Geräusch zu einem neuen Trigger werden. Das Gleiche trifft auf visuelle Trigger zu. Obwohl Misophonie meist mit einem akustischen Auslöser beginnt, kann ein sich wiederholender visueller Eindruck, der gleichzeitig mit dem akustischen Trigger auftaucht, schnell zu einem visuellen Auslöser werden. Wenn Sie zum Beispiel auf das Geräusch einer platzenden Kaugummiblase reagieren, sehen Sie gleichzeitig die Kaubewegungen Ihrer Triggerperson. Diese Bewegung wird Ihr neuer unabhängiger Trigger. Selbst wenn Sie aufgrund von Ohrstöpseln gar nichts hören oder durch ein Fenster jemanden beim Kaugummikauen nur sehen, aber nicht hören können, kann die Kieferbewegung bereits eine Reaktion in Ihnen triggern.
Übliche misophonische Trigger
Geräusche / Audio-Trigger:
Essgeräusche: Kauen, Zähneknirschen, schmatzen, Schlucken, mit vollen Mund reden
Geräusche, die am Esstisch gemacht werden: das Kratzen der Gabel auf dem Teller oder an den Zähnen, das Klimpern eines Löffels gegen einen Schüsselrand, Klirren von Gläsern
Trinkgeräusche: Schlürfen, nach einem Schluck „ah“ sagen, Schlucken, nach einem Schluck durchatmen
andere Mundgeräusche: an den Zähnen saugen, Küssen, Zahnseide benutzen, Zähne putzen
verwandte Geräusche: eine Kartoffelchipstüte aufmachen, eine Plastikflasche quetschen, eine Tasse absetzen Atemgeräusche: Schniefen, Schnauben, durch die Nase atmen, regelmäßiges Atmen, Schnarchen, pfeifender Atmen,
Gähnen, Husten, Räuspern, Schluckauf
Verbale Trigger: Konsonanten (besonders S und P), Vokale (weniger üblich), das „Plopp“-Geräusch mit den Lippen, heisere oder raue Stimmen, Flüstern, bestimmte Worte, Unterhaltungen, Fernseher durch die Wand hören, Singen, Summen, Pfeifen, Murmeln, das Wort „eh“
übliche Geräusche rund ums Haus: Bass durch die Wände, Zuwerfen von Türen, das Brummgeräusch des Kühlschranks, Haartrockner, elektrischer Rasierer, Nagelklipsen, Scharren von Füßen, Flip-Flops, schwere Fußtritte, Laufen auf oberem Stockwerk, Gelenkknacken, Kratzen, das Ticken einer Uhr, das Klopfen von Rohren, weinendes Baby, Toilettenspülung
übliche Geräusche am Arbeitsplatz, bzw. in der Schule: Tippen, Mausklicken, Umblättern, mit einem Bleistift auf Papier schreiben, Kopierer, das Klicken eines Kugelschreibers, das Klopfen eines Stiftes oder Fingers auf dem Tisch
andere Geräusche: landwirtschaftliche Geräte, Pumpen, Rasenmäher, aufprallende Bälle, Piepton beim Einlegen des Rückwärtsgangs, Verkehrsgeräusche, Piepton beim Autoschließen, das Zuschlagen einer Autotür
Tiergeräusche: Fellpflege bei Hund oder Katze, Hundegebell, Krähen eines Hahnes, Vogelgezwitscher, Grillengezirpe, Frösche, Kratzen, Gewinsel
Visuelle Trigger
Kieferbewegung (Kauen), das Gesicht berühren, auf einem Smartphone scrollen, mit dem Finger zeigen, mit dem Fuß wippen, mit einer Haarsträhne spielen, Essen zum Mund führen, mit den Fingern klopfen, Zwinkern
Geruchstrigger
bestimmte Gerüche (selten)
Taktile Trigger
eine Tastatur anfassen, bestimmte Textilien (selten)
Weitere Trigger
Vibrationen von Bass, das Stoßen gegen Schreibtisch oder Stuhl, schwere Schritte
Books of Blood, Spielfilm / Horror, erscheint am 07. Oktober 2020
In dieser Hulu-Produktion spielt Britt Robertson die überempfindliche, an Misophonie leidende Jenna. Wegen des Misophonie-Elements lohnt es sich allerdings nicht, sich diesen Horror-Steifen aus der Feder von Clive Barker anzusehen. Sie wird nicht wirklich gut dargestellt, eher so, dass Jenna die Essgeräusche ihrer Eltern überlaut und als unangenehm empfindet. Vom Element der Wut ist nichts zu sehen.
Criminal Minds, Season 13 / Folge 21 „Das Brummen von Taos“
Quiet Please – Englische Dokumentation zum Thema Misophonie
Das Projekt von Jeffrey S. Gould wurde durch Fundraising finanziert. Hier die offizielle Website: www.quietpleasefilm.com. Den Film kann man z.B. bei Vimeo leihen (€ 4,09) oder kaufen (€ 8,20): https://vimeo.com/ondemand/quietplease. Deutsche Untertitel gibt es seit Mitte April auch, vielen Dank dafür an Angelica Gladsone!
Radio
Andreas Seebeck beim SWR2
Journalistin Karen Schuller hat mich für einen Beitrag im Südwestrundfunk interviewt. Auch zu Wort kommen andere Betroffene sowie Heilpraktiker Detlef Pleiß aus Stuttgart.
Mal ein vorbildlicher 4-minütiger Beitrag ohne Triggergeräusche mit einigen Lösungsstrategien inkl. Informationen über eine effektive verhaltenstherapeutische Maßnahme. Die im Beitrag angesprochenen Tests habe ich bereits hier: Der Misophonie-Selbstbewertungsfragebogen, Die Amsterdam Misophonieskala (A-MISO-S), Die Misophonie Aktivierungsskala, Schnelltest. Mehr zur „Konfrontation unter Entspannung“: Die Neural-Repatterning-Technique (NRT). Einziger Kritikpunkt meinerseits: Die erwähnte Ausuferung in Gewalttaten kommt zwar vor, ist aber extrem selten und für Misophonie absolut untypisch.
Interview mit Thomas Dozier im österreichischen Rundfunk
Ein Team um den Neurologen Sukhbinder Kumar von der Newcastle University hat eine Studie zum Thema Misophonie veröffentlicht, in der Gehirnscans von Misophonikern und Nicht-Misophonikern verglichen wurden, die während des Abspielens von Triggergeräuschen entstanden. Des Ergebnis der Studie ist, dass Misophoniker durch das Triggern Stress empfinden. Na ja, das haben wir schon vorher gewusst, oder? Immerhin, viele Portale berichten über das Phänomen Misophonie, und jede Öffentlichkeitsarbeit macht die Sache bekannter. Hier einige der Berichte, die wegen der triggernden Bilder allerdings mit Vorsicht zu genießen sind. Empfehlenswert ist m. M. nur der Artikel des Ärzteblattes, der auch die Links zur Originalveröffentlichung enthält (letzter Link):
Die Beschreibungen, wie sich Misophonie ‚von innen‘ anfühlt, sind so authentisch geschrieben, dass viel Recherchearbeit zu erkennen ist. Auch andere psychische Störungen werden wunderbar erlebbar. Die Story ist vielschichtig und wird auf mehreren Zeit- und Sichtebenen flüssig erzählt, die Spannung bricht nie ab. Der eigenwillige Satz ist zwar ungewöhnlich, tut dem Lesespaß aber keinen Abbruch.
“Du bist so eine schöne Frau – würdest du bitte keine unschönen Geräusche machen”
In dem Roman „Lyssa: Ein Geheimnis-Krämer Fall“ leidet Protagonist Tycho unter Misophonie („Es hatte Jahre gedauert, bis er herausfand, dass er selbst an Misophonie litt: Er hasste Kau- und Essgeräusch, Niesen und Schniefen, manchmal sogar das Atmen, ganz gleich, wer es fabrizierte.“). Damit wird Heitz so einigen seiner Leser die Augen öffnen, denn noch immer wissen die meisten Misophoniker nicht, woran sie leiden. Auch denken die meisten, mit ihrem Problem völlig alleine dazustehen. Nichts könnte falscher sein, denn allen Studien zufolge leidet mindestens jeder 10te unter Misophonie. Zitate aus Markus Heitz: Lyssa: Ein Geheimnis-Krämer Fall. Knaur eBook, 2016, ISBN 9783426440636 (zitiert nach Google Books). Das Hörbuch ist exklusiv bei Amazon erhältlich.
Presseartikel
Wut in den Ohren
Die Tiroler Tageszeitung berichtet über Rico Hofmann, der an Misophonie leidet und sich mit Ohrstöpseln und Psychopharmaka ein halbwegs normales Leben ermöglicht: Link
Das Kauen anderer stört dich? Dann bist du kreativ!
Welt berichtet von eine Studie, die Kreativität mit einer verminderten Fähigkeit, störende Geräusche ausblenden zu können, in Beziehung setzt: Link
“…doch die Ärzte, die sie konsultierte, lachten das Kind damals nur aus.”
“Kann man gegen bestimmte Geräusche allergisch sein?”
Nichts Neues drin, aber immerhin macht es die Sache bekannter. Hier der Link. Triggerwarnung: Auf der Zielseite lässt sich ein Video starten, dass explizit Trigger enthält!
Social Media
Misophonie bei Pinterest
Schon mal bei Pinterest nach Misophonie geschaut? Ein Blick ist es allemal wert!
Am 21. April 2017 erschien das erste Soloalbum von Ankathie Koi mit dem Titel „I Hate The Way You Chew“. Koi: „Ich leide tatsächlich unter einer Art selektiver Geräuscheintoleranz. Wenn jemand laut isst, dann bekomme ich eine Gänsehaut. Meine Schwester hat sehr geräuschvoll gekaut. Wegen ihr bin ich immer zu spät zur Schule gekommen, weil ich in ihrer Gegenwart nicht essen wollte. Meine Mama hat deshalb oft durchgedreht.“
Blogs Betroffener
Uwe P. Werner: Misophonie – wenn man Geräusche hasst
Als ich Anfang 2016 durch meinen betroffenen Sohn zum ersten Mal mit dem Thema Misophonie konfrontiert wurde, gab es noch keine deutschsprachige Literatur zum Thema. Ich habe dann alle englischsprachige Titel zum Thema gelesen und fand das Buch ‚Understanding and Overcoming Misophonia‘ von Thomas H. Dozier am hilfreichsten. Thomas ist Vorreiter in der Erforschung der Erkrankung. Ich habe die Rechte für die deutsche Übersetzung erworben und das Buch übersetzen lassen, es ist unter dem Titel ‚Misophonie verstehen und überwinden‘ am 1. Juni 2016 im deutschen Buchhandel erscheinen. Mittlerweile habe ich bereits eine zweite erweiterte Fassung des Buches veröffentlicht. Ich hoffe, dass das Buch vielen bei ihrer Suche nach Heilung hilft.
Wie ich an das Thema Misophonie gekommen bin: Mein eigener Erfahrungsbericht – zwölf Jahre auf der Suche nach Hilfe
„Ich kann es nicht haben, wenn ich Mama essen höre. Darf ich das Radio anmachen?“Mein Sohn war 12, als er das beim Mittagessen zum ersten Mal sagte. Bestürzt nahmen wir den Hass und die Verzweiflung in seinem Blick wahr. Wir konnten uns nicht erklären, was los war. Er machte gerade eine schlimme Zeit in der Schule durch, in der er Mobbing und Ausgrenzung erfahren musste. Und nun konnte er nicht mehr mit der Familie am Tisch sitzen. Er fing überhaupt an, alle Situationen zu meiden, bei denen gegessen wurde. Kein abendliches gemeinsames Fernsehen, keine Kinobesuche, kein Essen gehen – es gab fast keine gemeinsamen Unternehmungen mehr. Meine Frau war völlig fertig – das Gefühl, dass das eigene Kind sich vor ihr ekelte, belastete sie schwer. Es wurde immer schlimmer, er konnte dem Unterricht in der Schule nicht folgen, wenn jemand in der Klasse Kaugummi kaute – und einer kaute eigentlich immer, auch die ein oder andere Lehrperson. Wir Eltern ahnten nicht einmal, wie schlecht es ihm dort ging – und er durchlitt die Hölle. Als psychotherapeutischer Heilpraktiker, spezialisiert auf Phobien und Zwangserkrankungen, erkannte ich in seinen Stresssymptomen gleich die Anzeichen einer Phobie – eine „Kauphobie“ habe ich es genannt. Ein fataler Irrtum. Alle meine Methoden, die sonst so wunderbar halfen, blieben bei meinem Sohn wirkungslos. „Du kannst als Vater dein Kind nicht therapieren!“ sagte man mir, also schickten wir ihn zu anderen Therapeuten – Jugendpsychologen, Klopftherapeuten, Kinesiologen, und später Verhaltenstherapeuten und auch einem Therapeuten für Traditionelle Chinesische Medizin. Zwischendurch Familienaufstellungen, Aggressionsseminar, Reiki und noch vieles mehr – alles ohne den geringsten Erfolg. Es wurde immer schlimmer. Unsere familiäre Situation war stark belastet, wir Eltern suchten verzweifelt nach einer Ursache. Was hatten wir bloß derart falsch gemacht, dass es unserem Kind so schlecht ging? Mit 18 rutschte er in eine Depression und bekam Antidepressiva (Citalopram), was seine Empfindlichkeit Geräuschen gegenüber etwas zu verbessern schien. Leider nur kurzzeitig. Während der Ausbildung (er hatte einige Praktika absolviert und sich dann begeistert für eine Ausbildung zum Erzieher entschieden) litt er sowohl in der Schule als auch in seiner Wohngemeinschaft wegen unterschiedlichster Nebengeräusche (Bassbrummen der Musik der Zimmernachbarn, Fiepen der Heizung etc.), so dass er keine Möglichkeit zur Erholung hatte. Er fing an, sein Leben zu hassen. Niemand schien sein Leid nachvollziehen zu können, kein Therapeut hatte je von solchen Symptomen gehört. Alle Therapieversuche waren wirkungslos, keine Hilfe in Sicht. Er brach seine Ausbildung ab und war völlig verzweifelt. Und die ganze Familie mit ihm. Dabei ist er intelligent, handwerklich begabt, hilfsbereit, sozial kompetent – sobald aber jemand in seiner Umgebung aß oder kaute (inzwischen reichte schon der Anblick sich bewegender Kiefer) war er nicht mehr er selbst. Dann, er war inzwischen 24 Jahre alt, nach über 12 Jahren des Suchens und erfolglosen Therapierens, ein Lichtblick: Auf der Suche nach einer Möglichkeit, bei einem Computerspiel die Kaugeräusche, die ertönten, wenn Energie getankt wird, auszuschalten, fand er im Internet etliche Leidensgenossen, die genau dieses Geräusch auch maßlos störte. Und einer schrieb: „Da springt meine Misophonie voll an“. Mit dem Satz: „Ich weiß jetzt, was ich habe, es heißt Misophonie!“ kam er zu mir. Und zusammen begannen wir zu recherchieren. Ich las alles, was es an Büchern zum Thema gab – nicht viel, und alles auf Englisch. Meist waren es deprimierende Selbsterfahrungsberichte, alle mit dem Konsens „Misophonie ist nicht heilbar“. Eins aber war anders. Der amerikanische Familientherapeut Thomas Dozier hatte jahrelang auf dem Gebiet geforscht und entdeckt, dass Misophonie etwas ganz anderes als eine Phobie ist, ja dass die Art, wie Phobien behandelt werden, Misophonie sogar noch schlimmer macht. Er beschreibt sie als erworbenen Reflex, bei dem eine Muskelreaktion eine zentrale Rolle spielt. Alles, was Thomas zum Thema zu sagen hatte, passte genau zu dem, was mein Sohn durchlebt und durchlitten hatte. Sogar den Muskelreflex konnten wir anhand Thomas‘ Anleitung identifizieren und üben jetzt gezielt, die misophonische Reaktion aufzulösen. Die Erleichterung allein dadurch, dass es nun endlich eine richtige Diagnose gab, war enorm. 12 Jahre lang, sein halbes Leben also, hatte unser inzwischen erwachsenes Kind von allen Therapeuten gehört, dass es sich den belastenden Situationen nicht entziehen dürfe – denn Konfrontation ist bei der Therapie von Phobien die übliche Methode. Er zwang sich also, seine Trigger auszuhalten. Auch ich als Vater hatte ihn darin bestärkt, die Konfrontation zu suchen und ihr keinesfalls aus dem Weg zu gehen. Aber Misophonie ist keine Phobie. Mittlerweile wissen wir, dass dies bei Misophonie der absolut falsche Weg ist. Und uns ist klar geworden, warum sich sein Zustand immer weiter verschlechterte: nicht trotz, sondern wegen der Therapien. Allein durch das Wissen über Misophonie ist das Leben für uns sehr viel leichter und entspannter geworden. Wir können ganz anders mit der Situation umgehen und sind auf einem guten Weg. Die Tatsache, dass es noch keinerlei deutschsprachige Literatur über Misophonie gab, veranlasste mich, Thomas nach den Übersetzungsrechten für sein Buch zu fragen. Er willigte begeistert ein, so dass es nun endlich ein Buch in deutscher Sprache zum Thema gibt. Außerdem behandle ich mittlerweile selbst mit der Methode nach Thomas Dozier, mit der „Neural Repatterning Technique“. Ich hoffe, dass das Buch vielen Misophonikern, ihren Familien und Freunden eine Hilfe sein wird.
Andreas Seebeck, Juni 2016
Ryans Geschichte – „Hör damit auf oder ich bringe dich um!“
„Meine Misophonie trat auf, als ich ungefähr sechs oder sieben Jahre alt war. Wenn meine Eltern mit mir schimpften, hielt ich mir die Ohren zu und bat sie, mich nicht anzuschreien. Sie schrien nicht wirklich, doch ich habe zusätzlich zu meiner Störung auch noch ein überdurchschnittliches Hörvermögen. Als wir das von einem Hals-Nasen-Ohrenarzt überprüfen ließen, redete meine Mutter jedoch während des Hörtests mit dem Arzt, und so dachten sie, dass ich halb taub wäre. Ich würde sagen, dass meine Trigger sich über die Jahre hinweg vervielfältigt haben. Anfangs störten mich nur Kaugeräusche, aber als ich zur Uni ging, verschlimmerte sich alles unglaublich schnell. Selbst wenn nur die Möglichkeit besteht, dass jemand im gleichen Zimmer essen wird, stehe ich auf und gehe raus, aus Angst vor dem was passieren könnte. Vogelgezwitscher (es begann in meinem ersten Studienjahr in der Uni, weil die Vögel vor meinem Schlafzimmerfenster keine Ruhe gaben), das Klicken eines Kugelschreibers, das Klopfen von Fingernägeln, Tastaturgeräusche vom Handy, schweres Atmen, jegliches Geräusch, das durch die Wände dringt, aber ganz besonders Stimmen, Schniefen, Räuspern, der Bass von Musik und vieles mehr. Meine Misophonie hat sich so weit entwickelt, dass jedes sich wiederholende Geräusch mich wahnsinnig macht. Ich bin dauernd auf der Hut vor Triggergeräuschen und schlafe deswegen immer mit Kopfhörern, weißem Rauschen und einem Ventilator auf höchster Stufe. Freunde und Familienmitglieder wissen schon länger, dass etwas mit mir los ist, denn sobald ich einen Trigger wahrnehme, werfe ich ihnen einen Blick zu, der ihnen sagt: „Hör damit auf oder ich bringe dich um!“. Sie hören dann auch sofort mit dem auf, was sie gerade tun, und entschuldigen sich, woraufhin ich mich natürlich furchtbar fühle. Zu essen ist ja schließlich normal und man sollte sich dafür nicht entschuldigen müssen. Ich weiß ja, dass ihr Verhalten absolut in Ordnung ist. Sie lösen diese fürchterlichen Emotionen in mir ja nicht mit Absicht aus, und die Geräusche, die mich nerven, sind schließlich Alltagsgeräusche. Doch in dem Moment kann ich nur an das Geräusch denken, und wenn ich ihm nicht entkommen kann (ich ziehe mich wenn möglich zurück), dann drehe ich durch. Im Studentenwohnheim an der Uni konnte ich zum Beispiel meine Zimmernachbarn hören, und da ich diesem Geräusch nicht entkommen konnte, flippte ich aus und fing an, gegen die Wände zu schlagen und zu brüllen. Ich kochte nur so vor Wut. Später schämte ich mich dann für mein unkontrolliertes Verhalten, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun. Wenn ich dem Geräusch nicht entkommen kann, fühlt es sich nach ungefähr fünf Minuten so an, als ob die Leute mich mit Absicht nerven wollen. Natürlich griff der Leiter des Studentenwohnheims ein, und ich wohne jetzt nicht mehr auf dem Campus. Nachdem ich meiner Familie die Forschungsergebnisse von misophoniatreatment.com vorlegte, zeigten alle weit mehr Verständnis. Meine Mutter ist rücksichtsvoller als mein Vater. Seine Kaugeräusche, auch wenn er mit geschlossenem Mund kaut, sind mein absolut größter Trigger. Er kaut wirklich dauernd an seinen Nägeln, seiner Lippe oder der Innenseite seiner Wange. Meine Schwester und mein Vater leiden außerdem am Tourette-Syndrom. Stellen Sie sich mal vor wie schwer es ist, an Misophonie zu leiden und mit Leuten zusammenzuwohnen, die zwanghaft bestimmte Handlungen wiederholen und Laute von sich geben. Ich bin inzwischen fast ständig alleine auf meinem Zimmer. Es stört mich nicht, für mich zu sein, und ganz ehrlich – ich fühle mich viel weniger gestresst, weil ich keine Triggergeräusche befürchten muss. Leider heißt das aber auch, dass ich meine Familie fast nie sehe, obwohl ich mit ihr zusammen wohne. Hinzu kommt, dass mich laute Geräusche jedes Mal fast zu Tode erschrecken. Taub zu sein erscheint mir inzwischen als die einzige Möglichkeit, mich in der Gegenwart anderer Leute wohl zu fühlen. Ich wüsste gern was ich tun könnte, um weniger isoliert zu leben. Ich liebe schließlich meine Familie und möchte gerne Zeit mit ihr verbringen, aber es ist mir einfach nicht möglich.“
Extreme emotionale Reaktionen sind das Kennzeichen von Misophonie, wie Judys nachstehender Kommentar erläutert.
Judys Geschichte – “Mein Sozialleben ist ein Alptraum”
„Ich bin jetzt 54 Jahre alt, und es kommt mir vor, als kämpfte ich schon mein ganzes Leben lang mit meinem Problem. Erst vor Kurzem fand ich heraus, dass es einen Namen hat. Einer meiner Arbeitskollegen treibt mich mit seinem ewigen Schniefen und Husten in den Wahnsinn, und das so sehr, dass sich meine Wut in Mordlust verwandelt. Ich weiß, es klingt schlimm, doch ich wünsche mir manchmal, dass er einfach tot umkippt. Andere Misophoniker können das sicherlich nachempfinden. Mein armer Mann versteht, wie ich mich fühle und tut sein Bestes, um Geräusche zu vermeiden, die ich nicht ausstehen kann. Ich weiß manchmal gar nicht, wie er es mit mir aushält. Ich habe diese Störung von meinem Vater geerbt und an eine meiner Töchter weitergegeben. Mein Sozialleben ist ein Alptraum.“
Judy wünscht sich, ihr Arbeitskollege möge tot umkippen! Es ist schwer für jemanden, der nicht an Misophonie leidet, solche extremen Emotionen nachzuempfinden, denn Nicht-Betroffene können nicht verstehen, was ein Misophoniker durchmacht, wenn er wiederholten Triggergeräuschen ausgesetzt ist, ohne ihnen entkommen zu können.
Bills Erfahrungsbericht – “Die Uni war die Hölle – Schniefen, Kaugummikauen, Husten und Gescharre”
„Es kommt mir vor, als ob ich die Details aller dieser Misophonie-Erfahrungsberichte genau kenne – ich kann genau nachempfinden, was diese Menschen durchmachen. Ich hatte vor Kurzem eine Krise, daraufhin wurde Misophonie bei mir diagnostiziert und seitdem beschäftige ich mich damit und recherchiere – besonders auch im Internet. Die Symptome der Misophonie habe ich schon seit meiner frühesten Kindheit. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Familienurlaub, eine Autoreise, die über 4000 km lang war. Auf dieser Reise bemerkte ich das laute Atmen meines kleinen Bruders. Zwar versicherte mir meine Mutter, dass alles in Ordnung sei, aber schon bald fingen mein Bruder und ich an, uns anzubrüllen. Ich klemmte schließlich meinen Kopf zwischen das Autofenster und meinen Arm, so dass ich meinen Bruder nicht mehr hören konnte. Dieses Szenario wiederholte sich des öfteren in meiner Familie. Bei gemeinsamen Mahlzeiten waren Angst, Wut, Kränkungen, Verlassenheit und Selbsthass an der Tagesordnung. Ob am Tisch oder auf Ausflügen – ich verbrachte wenig Zeit mit meiner Familie. Ich suchte nach einsamen Orten an der frischen Luft. Damals dachte ich, ich sei ein Naturliebhaber, doch jetzt frage ich mich, ob ich nicht einfach auf der Suche nach Ruhe war – auf der Flucht sozusagen. Die Uni war die Hölle – Schniefen, Kaugummikauen, Husten und Gescharre. Zum Schluss ging ich gar nicht mehr in meine Vorlesungen, sondern lernte alleine oder mit einem guten Freund. Miso spielte in allen meinen festen Beziehungen eine Rolle und führte sogar zu einer Scheidung. In jungen Jahren war ich abhängig, bin aber schon seit 27 Jahren abstinent, obwohl es nicht immer einfach ist. Offensichtlich sind Alkohol oder Drogen kein Weg, Miso in den Griff zu bekommen. Ich bin jetzt 51 Jahre alt und stehe an einem Wendepunkt, denn die Diagnose gibt mir eine neue Perspektive. Ich hatte die Angstgefühle am Esstisch schon vergessen; den Selbsthass und den Gesichtsausdruck meines Bruders, wenn ich ihn wütend und hasserfüllt anstarrte. Niemand verdient es, so behandelt zu werden, und ich hasste mich selbst dafür. Sicher war es nicht einfach, mit mir unter einem Dach zu leben. Letzten Endes wurde ich zum Einzelgänger, es war einfach zu schwierig, unter Menschen zu sein. Zwar gab es einige Personen in meinem Leben, die mir viel bedeuteten, doch die Miso machte sich immer wieder bemerkbar. Was mir an dieser Diagnose Mut macht, ist, dass ich nun endlich weiß, dass ich wirklich krank bin und nichts dafür kann. Mir wurde immer gesagt, dass es nur Einbildung ist, dass ich es ignorieren soll. Schließlich glaubte ich sogar selbst, dass ich einfach kaputt bin. Inzwischen bin mit einer sehr verständnisvollen Frau zusammen. Sie ist davon überzeugt, dass wir das zusammen schaffen, und ich hoffe, sie hat damit recht. Langsam bin ich es leid zu glauben, dass ich kaputt bin. Ich verstehe, dass es für andere nicht einfach ist, mit mir klarzukommen, und mein Ringen mit der Misophonie zu respektieren. Ich verstand bis jetzt nicht, dass dieser Zustand jenseits meiner Kontrolle liegt, und dass es in Ordnung ist, um Hilfe zu bitten. Für mich klingt es wie ein Märchen, dass ich um Hilfe bitten darf. Diejenigen Misophoniker, die den Mut haben, das zu tun, haben meine Hochachtung. Ich möchte mich für die Chance bedanken, meine Geschichte hier erzählen zu dürfen.“
Das folgende Gedicht drückt einige Gefühle einer Misophonikerin aus.
“Jeder Bissen fräst sich in meinen Gehörgang”
Meine Misophonie
von Angela Muriel Inez Mackay
Meine Misophonie ist keine Laune. Ich will mich durch sie nicht in den Mittelpunkt stellen. Ich muss nicht einfach mal an die frische Luft oder eine Tablette schlucken.
Meine Misophonie ist keine Intoleranz. Sie ist keine Ausrede, um gemein zu sein – und NEIN, ich habe nicht gerade meine Tage.
Ich weine nicht, weil ich traurig bin. Ich weine aus Wut, weil ich nicht weiter weiß. Ich weine, weil ich Angst habe, dass es dir einfach zu viel wird. Dass du mich wegschieben wirst.
Ich trage die Kopfhörer nicht aus Trotz oder weil ich nicht hören will, was du mir zu sagen hast. Ich trage die Kopfhörer ironischerweise, weil ich mich nach Ruhe sehne.
Mein Motto lautet: „Ich bin schuld, nicht du“. Das sage ich mir dauernd, während du kaust.
Jeder Bissen fräst sich in meinen Gehörgang. Jedes Kratzen deiner Gabel ballt meine Hand zur Faust. Jedes Rascheln der Tüte lässt mich schaudern.
Es bringt mich um, wenn du über meinen Schmerz lachst. Dein Kaugummi verspottet mich, und anstatt dich zu entschuldigen, sagst du nur: „Es ist doch nur ein Geräusch!“
Na klar, für dich ist es nur ein Geräusch. Aber für mich ist es mein schlimmster Alptraum.
Mich treibt es dazu, Leute zu meiden, keine Pläne zu machen, nicht mit Freunden essen zu gehen.
Wegen dieses Geräusches möchte ich nur noch zuhause bleiben.
Und ich frage mich, wozu ich mich noch anstrenge.
Meine Misophonie macht mir Angst. Jeden Tag habe ich Angst, dass Leute nicht mehr mit mir klarkommen, dass sie denken, dass ich überempfindlich bin, dass ich „intolerant“ bin.
Meine Misosphonie ist ein Teil von mir, und es tut mir leid.
Es tut mir leid, dass ich dich wütend anstarre, dass ich vor dir zusammenzucke, dass ich dich ankeife.
Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.
Unbedingt notwendige Cookies
Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.
Wenn du diesen Cookie deaktivierst, können wir die Einstellungen nicht speichern. Dies bedeutet, dass du jedes Mal, wenn du diese Website besuchst, die Cookies erneut aktivieren oder deaktivieren musst.
Drittanbieter-Cookies
Diese Website verwendet Google Analytics, um anonyme Informationen wie die Anzahl der Besucher der Website und die beliebtesten Seiten zu sammeln.
Diesen Cookie aktiviert zu lassen, hilft uns, unsere Website zu verbessern.
Bitte aktiviere zuerst die unbedingt notwendigen Cookies, damit wir deine Einstellungen speichern können!