Hier lesen Sie das ungekürzte Interview, dass ich Januar 2018 mit der Bild Online geführt habe:
B.O.: Ist Misophonie eher eine körperliche oder psychische Krankheitsform?
Seebeck: Misophonie ist wohl neurologisch bedingt. Das sogenannte Reptiliengehirn interpretiert ein Geräusch oder auch einen visuellen Reiz als Angriff. Die Reaktion darauf, die sich nicht bewusst steuern lässt, ist starke Wut oder Ekel – das wird aversiver konditionierter Reflex genannt. Zu diesem Thema wird zur Zeit viel geforscht.
B.O.: Welche Ursachen hat Misophonie?
Seebeck: Hört jemand unter großem Stress ein sich wiederholendes Geräusch, so wird beides miteinander verknüpft. Eine typische Situation: Das Kind kommt gestresst von der Schule zum gemeinsamen Mittagessen. Dort fallen ihm plötzlich die Essgeräusche eines Familienmitgliedes auf. Es muss am Tisch sitzen bleiben, was zu noch größerem Stress führt. Schon ist ein ganz normales Essgeräusch zum Trigger geworden. Das kann prinzipiell jedem und auch in jedem Alter passieren, häufig beginnt die Misophonie aber im Alter von 8 bis 12 Jahren. Essgeräusche sind übrigens die häufigsten Trigger, zu Beginn sogar oft nur die Essgeräusche einer einzigen Person. Das ist das Interessante: Es muss kein traumatisches Erlebnis zugrunde liegen, die Misophonie entsteht in der Regel in einer ganz normalen Alltagssituation. Die Ursache liegt also nicht im Fehlverhalten einer anderen Person. Die Belastung ist für die Betroffenen und ihre Familien ungeheuer groß: Man steht sich nahe, man liebt sich, trotzdem werden Kinder von Eltern oder auch Eltern von Kindern getriggert.
B.O.: Sind eher Männer oder eher Frauen betroffen?
Seebeck: Frauen sind fast doppelt so häufig betroffen wie Männer: Etwa 20 % aller Frauen und 12 % aller Männer leiden unter misophonischen Triggern. Misophonie ist also eine weit verbreitete, aber trotzdem noch wenig bekannte Störung. Viele Menschen leiden darunter, ohne zu wissen, dass es für ihr Problem einen Namen gibt und glauben, dass sie allein damit stehen. Sie ziehen sich sozial zurück und werden oft als mürrisch, launenhaft oder reizbar abgestempelt.
B.O.: Gibt es Menschen, die eher davon betroffen sind als andere? (labilere Personen?)
Seebeck: Es gibt Menschen, die eher schlechter bei störenden Geräuschen weghören können als andere. Sie sind offener und ungeschützter ihren Sinneseindrücken gegenüber und daher anfälliger, Trigger zu entwickeln. Misophoniker sind überdurchschnittlich kreativ und intelligent. Die Firma 23andme, die private DNA-Analysen macht, konnte nach Auswertung von 80.000 Kundendaten auch einen genetischer Marker in Zusammenhang mit Misophonie bringen. Ein starker Risikofaktor ist aber auch Stress.
B.O.: Wie äußern sich die Beschwerden?
Seebeck: Geräusche (oder eine Bewegung, Trigger können auch visuell sein), die andere nicht einmal wahrnehmen, führen zu einem Fehlalarm im Gehirn: Du wirst angegriffen, wehr Dich! Die extreme Wut, die das hervorruft, kann man nicht unterdrücken oder ignorieren. Kleine Kinder rufen dann oft verzweifelt: „Mama, Du kaust so laut!“. Die übrige Familie ist ratlos, weil niemand sonst irgendwelche Kaugeräusche wahrgenommen hat. Für Misophoniker ist ein normaler Schul- oder Arbeitsalltag nur schwer zu bewältigen, denn um einen herum wird ständig gekaut, geschnieft und getrunken, geklickt und getippt. Diese Geräusche können auch sehr leise sein, das spielt dabei keine Rolle.
B.O.: Ist Misophonie heilbar? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
Seebeck: Die Reaktion auf misophonische Trigger lässt sich auflösen oder zumindest mindern. Viele Misophoniker erfahren schon eine Erleichterung, wenn ihnen bewusst wird, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind und sich über die Misophonie informieren können. Sie können dann der Entstehung von neuen Triggern vorbeugen und dafür sorgen, dass sich vorhandene nicht verschlimmern. Dafür ist es wichtig, den Triggern aus dem Weg zu gehen. Der Versuch, sie auszuhalten, sorgt oft dafür, dass neue Trigger hinzukommen oder bestehende sich ausweiten.
An Therapiemöglichkeiten gibt es z.B. die Neural-Repatterning-Technik (NRT), die in der Verhaltenstherapie „Konfrontation unter Entspannung“ genannt wird.
Ein großes Problem ist, dass die wenigsten Therapeuten bisher überhaupt von Misophonie gehört haben. Hier muss meist der Klient dem Therapeuten die Krankheit erklären, damit nicht die falsche Methode angewendet wird (z.B. Konfrontation unter Stress).
Glücklicherweise steht die Forschung nicht still. Mit einer Methode, die wir TBT-Auditiv nennen und die u.a. auf Erkenntnissen der Misophonieforschung der Universität Amsterdam beruht, lassen sich Triggerreaktionen sehr schnell verringern.
Bei dieser Methode, die von der Australierin Rehana Webster eigentlich für eine ganz andere Störung entwickelt wurde, spielt die Verfremdung der Triggergeräusche eine zentrale Rolle. Außerdem kann der gezielte Einsatz von Entspannungsmethoden wie der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson oder körperbasierten Techniken wie dem myofaszialen Muskelzittern (TRE) sehr hilfreich sein.
Viele Misophoniker behelfen sich auch mit Kopfhörern, Ohrstöpseln und sogenannten Tinnitus-Noisern.
B.O.: Was genau ist die Neural-Repatterning-Technik (NRT)? Wie lange praktizieren Sie das schon?
Seebeck: Bei dieser Methode der Dekonditionierung wird dafür gesorgt, dass sich der Klient möglichst wohlfühlt. Seine Trigger werden ihm dann fast unhörbar vorgespielt, so dass dabei keine Wut-Reaktion hervorgerufen wird. NRT wurde von Thomas Dozier in den USA entwickelt. Er war einer der ersten, die zu dem Thema geforscht haben, weil sowohl seine Tochter als auch seine Enkelin davon betroffen waren. In seinem Buch „Misophonie verstehen und behandeln“ gibt er auch Hinweise zur Selbsthilfe.
Ich selbst praktiziere NRT seit ungefähr drei Jahren, setze sie mittlerweile aber eher selten ein, weil die TBT-Auditiv-Methode schneller hilft.
B.O.: Wieso ist die Konfrontationstherapie nicht für Misophonie geeignet?
Seebeck: Weil Misophonie im Gehirn ganz anders abläuft als z. B. eine Phobie oder eine Zwangsstörung. Hält man Ängste aus, nimmt der Stresslevel irgendwann wieder ab, was dann einen Lerneffekt hat. Bei Wut oder Ekel funktioniert das nicht. An Wut kann man sich nicht gewöhnen – so wenig, wie man sich an Mobbing gewöhnen kann! Der erhöhte Stresslevel bei einer Konfrontation (wenn es nicht eine Konfrontation unter Entspannung ist) führt in der Regel zur Verschlimmerung der Misophonie.
Leider wird Misophonikern aufgrund von Fehldiagnosen oft empfohlen, ihre Trigger auszuhalten. Ich habe von meinen Klienten schon alle möglichen Diagnosen gehört, die ihnen gestellt wurden: Trotzverhalten, affektive Störung, Hyperakusis, ADHS, bipolare Störung, paranoide Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung, Phobie, posttraumatische Belastungsstörung und noch viele mehr. Wie gesagt: Es ist ein großes Problem, dass Misophonie unter Therapeuten noch wenig bekannt ist, und man kann natürlich nur etwas diagnostizieren, was man auch kennt.
B.O.: Ist es vorstellbar, dass sich Betroffene von ihrem Partner trennen mussten, weil sie die Geräusche nicht mehr ertragen konnten?
Seebeck: Das kommt sehr oft vor. Ich hatte schon viele verzweifelte Paare in meiner Praxis. Wenn man nur lange genug mit einem Menschen zusammenlebt, können sich alle möglichen Trigger ausbilden. Wenn zum Beispiel die Aussprache eines bestimmten Lautes zum Trigger wird, können Paare nicht mehr miteinander reden, auch wenn sie sich noch so lieben! Ein neuer Partner ist meist nur eine kurzfristige Lösung. Nach einigen Monaten des Zusammenlebens stellen sich erneut Trigger ein. Viele Misophoniker leben sehr einsam: Stellen Sie sich vor, Sie müssten alle gesellschaftlichen Ereignisse meiden, bei denen gegessen wird – was bleibt dann noch?
Foto: Andreas Seebeck